Die Piratenseele, so der berühmte und berüchtigte Name des Piratenschiffs war vor ein paar Stunden aufgebrochen. Land war schon eine ganze Weile nicht mehr zu sehen. Egal, wohin man auch sah, gab es nur noch Wasser.
Mittlerweile hatte sich das Wetter verändert. Aus den dünnen Wolken, die am Abend aufgezogen und dann dicker geworden waren, hatte sich ein kräftiger Wind mit prasselndem Regen entwickelt. Wer konnte und durfte, hatte es sich unter Deck im Warmen und Trockenen gemütlich gemacht. Denn auch dort gab es immer etwas zu tun. Seile wurden repariert, Segel genäht und die Enterhaken auf Hochglanz poliert. Auf der Piratenseele herrschte Ordnung.
Kapitänin Morgana stand auf der Brücke und steuerte das Schiff durch die schwere See. Ihr Ledermantel schützte sie nur bedingt vor dem Regen. Schon eine ganze Weile spürte sie mehrere Rinnsale, die ihr durch die Wäsche und auf der Haut herab rannen und sich in den schweren Stiefeln sammelten.
Hinter ihr öffnete sich ein kleines Fenster. Die Frau, mit der sie sich nicht nur ihr Leben und ihre Familie, sondern auch das Kommando teilte, steckte den Kopf halb heraus.
»Hui! Was ist denn hier draußen los? So schlimm hätte ich es aber nicht erwartet.«
»Schlimm?« Morgana fühlte sich beleidigt. Das war noch kein schlimmes Wetter. Sie hatte die Piratenseele schon durch ganz andere Gefahren gesteuert.
»Morgan, willst du nicht langsam rein kommen, in trockene Klamotten schlüpfen und dich aufwärmen? Es wird sich schon jemand finden, der das Steuer übernimmt. Ich könnte dich auch ablösen.«
Morgana fuhr herum. In ihren Augen blitzte es auf. »Mein Name ist Morgana Eleanor da Silva y Gonzales. Ich hasse es, wenn man meinen Vornamen abkürzt. Das gilt für die Crew, das gilt für unsere Feinde und das gilt auch für dich – Debby.«
Den Namen sprach sie besonders langsam, hart und bedrohlich aus.
»Ja, ich weiß. Du liebst deine Namen, weil sie von Feen stammen und du fest daran glaubst, schon welche gesehen hast. Ich vermute sogar, dass du davon überzeugt bist, nicht im Waisenhaus aufgewachsen zu sein, sondern von Feen aufgezogen.« Deborah hatte sich nicht einschüchtern lassen und grinste breit. »Also, was ist? Kommst du jetzt rein oder wartest du noch, bis deine Stiefel überlaufen.«
»Ich bin immerhin so schlank wie eine Fee. Und ja, ich komme rein.«
Morgana winkte der Steuerfrau zu, die sich unter einem waagerecht aufgespannten Segel zurück gezogen hatte, um halbwegs trocken zu bleiben, was ihr aber nur mit mäßigem Erfolg gelang. Der Wind blies unaufhörlich die Gischt darunter.
»Pat! Du bist dran.«
Patricia nickte, zog ihren Mantel enger zusammen und löste die Kapitänin ab. Morgana stapfte erschöpft die rutschige Treppe hinab. Bei jedem Schritt schwappte Wasser aus ihren Stiefeln ins Freie. Sie trat durch die Tür der Kajüte. Angenehm warme Luft strömte ihr entgegen.
»Stiefel aus! Du machst den ganzen Teppich nass.«
Morgana seufzte. Sie setzte sich auf einen kleinen Schemel, und hängte nach und nach den Mantel und die Stiefel auf Haken, die über einer großen Zinkwanne standen.
»Die Wanne ist dürfte in einer halben Stunde voll mit Abtropfwasser sein. Wenn wir dann noch ein Feuerchen darunter anzünden, kann unser Mädchen nachher darin baden.«
»Baden?« Enterhäkchen kam so schnell aus ihrer Schlafkammer gelaufen, dass ihr beiden langen Zöpfe auf und ab wippten. »Bist du verrückt geworden? Ich bin eine Piratin. Ich gehe doch nicht baden. Ich dusche in der Gischt, die der Sturm über die Reling peitscht.«
Sie lachte laut.
»Schön, dass du endlich bei uns bist, Mama. Wir haben das Frühstück vorbereitet. Du bist bestimmt nach dieser langen Nacht ganz hungrig.«
Morgana war überrascht Sie fuhr herum und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Sie hatte zwar nie Zahlen und Buchstaben lesen gelernt, wusste aber, wo die Zeiger zu welcher Tageszeit stehen mussten. Tatsächlich. Schon bald würde die Sonne aufgehen und damit einen neuen Tag beginnen.
»Warum hat mir denn niemand Bescheid gesagt? Ich wollte mich doch zwischendurch eine Weile hinlegen und schlafen.«
»Ich habe es mehrfach versucht.«, erklärte sich Deborah. Du hast mich im Sturm entweder nicht gehört oder ignoriert.«
»Ich ignoriere jeden, der mich Morgan nennt.«
Deborah hatte sich daran gewöhnt und nannte ihre Frau trotzdem Morgan. Das gefiel ihr einfach besser.
»Und was ist mit dir, junges Fräulein?«, wandte sie sich ihrer Tochter zu.
»Mami, was soll das? Ihr wisst beide, dass ich das nicht mag.«
»Das ist aber keine Entschuldigung für deinen Aufzug. Du siehst aus, als wärst du gerade aus dem Bett gekrochen.«
Enterhäkchen sah an sich herab. Sie hatte zwei verschiedene Ringelsocken an. Der linke war in roten, der andere in blauen Farben gestreift und hingen beide auf halb acht. Der graue Rock hatte mehr Falten, als es der Schneider sich wohl beim Nähen gedacht hatte. Nur das schwarze Shirt mit dem Totenschädel ließ keine Kritik zu.
»Das trägt man jetzt in der Stadt so. Das ist modern.«, versuchte sich Enterhäkchen sich der Situation zu entziehen.
»Und deine quietschgelben Stiefelchen haben wohl auch schon bessere Zeiten gesehen. Ich bin mir sicher, dass in den Sohlen mindestens ein Loch zu finden ist.«
Das Mädchen wurde rot im Gesicht und lachte gespielt. »Meine Stiefel fast du nicht an. Die sind mir heilig. Die gehörten zu meiner ersten Piratenausrüstung, die ich von euch bekommen habe. Die kann ich nicht weggeben.«
»Ich besorge dir welche, die genau so aussehen.«, schlug Deborah vor. »Du wirst doch schon längst ein größeres Paar brauchen. Deine Zehen drücken bestimmt schon innen gegen die Spitze. Das ist nicht gesund.«
»Und was ist jetzt mit Frühstück?«, mischte sich Morgana unwirsch in das Gespräch. »Ich habe mich längst umgezogen, meine Haare in ein Handtuch gewickelt und hätte gern den Ofen als Sessel am Tisch. Mir ist kalt. Müde bin ich auch. Ich brauche Schlaf.«
Keine zwei Minuten später saßen die Drei schmatzend am Tisch und aßen dicke Brotscheiben mit leckerem Aufstrich.
Kurz vor Sonnenaufgang ließ der Regen nach und die Wolkendecke riss auf. Die ersten hellen Strahlen tauchten den Himmel in ein wunderschönes Orange. Das Meer glättete sich und die Fahrt der Piratenseele wurde ruhiger. Nun zogen sich die Seeleute, die die Nacht über an Deck geschuftet hatten, nach und nach zurück, um den überfälligen Schlaf nachzuholen.
Enterhäkchen, die sich vom Sturm hatte in den Schlaf wiegen lassen, war umso fitter und tobte sich auf dem Schiff aus. Sie hatte endlich die Gelegenheit, in der Besatzung alte Freunde zu begrüßen und neue Freundschaften zu schließen. Ihr erster Weg führte sie in die Kombüse, in der gerade das Mittagessen vorbereitet wurde.
»Moment mal.« Ein großer, gut beleibter Seebär hatte sie herein schleichen gehört. Ohne sich zu dem Mädchen umzudrehen, hatte er sie ertappt. »Was fällt dir ein, einfach so meine Kombüse zu betreten? Du hättest wenigstens fragen können. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Enterhäkchen blieb wie angewurzelt stehen. Hoffte sie etwa, wenn sie sich mucksmäuschenstill verhielt, dass der Smutje an seinen Ohren zweifelte?
»Ich weiß genau, dass du hinter mir stehst. Ich bin nicht dumm, auch wenn du mich dafür verkaufen willst.«
Enterhäkchen sagte noch immer kein Wort, hielt stattdessen die Luft an.
Der Smutje seufzte. »Willst du jetzt noch lange dort stehen bleiben oder begrüßt du langsam den alten Seebären, junge Dame?«
»Was soll das? Du weißt, dass du mich nicht so nennen sollst.«
Der Smutje drehte sich grinsend um und breitete seine kräftigen Arme aus. »Lass dich an meinen dicken Bauch drücken. Endlich ist mein Enterhäkchen wieder da.«
Sie lief los und sprang ihm in die Arme. »Oh, du lieber Nanuk. Wie habe ich meinen großen Eisbären vermisst.«
Sie wuschelte ihm durch die weißen Haare und lachte laut. »Du bist auch der erste, zu dem ich komme. Die anderen müssen noch etwas auf mich warten.«
»Das will ich meinen. Am alten Nanuk kommt keiner vorbei.« Er setzte das Mädchen ab, schöpfte einen Löffel Soße aus seinem großen Topf und hielt ihn ihr hin.
»Musst du mal probieren. Ich habe mir neue Rezepte ausgedacht, die du noch nicht kennst. Man nennt es Bolognese oder so und stammt aus einem anderen Land, das wir vor ein paar Monaten besucht haben. Die Mannschaft ist ganz verrückt danach. Ich habe ihnen aber noch nicht gebeichtet, dass da kein echtes Hackfleisch drin ist. Also, schön für dich behalten.«
Enterhäkchen nickte. »Schmeckt trotzdem richtig lecker. Ich freue mich schon auf das Essen. Gibt es denn etwas, das ich über die Mannschaft wissen sollte? Ist irgendwas passiert, während ich weg war? Ich möchte ungern in ein Fettnäpfchen treten , weil ich was verpasst habe.«
Nanuk packte das Mädchen an der Hüfte und hob es zur Seite. »Dann solltest du nicht hier stehen. Hier bewahre ich nämlich immer das alle Fett in einem großen Topf auf. Macht sich nicht so gut, wenn man das unter der Schuhsohle kleben hat. Stell dir mal vor, du trägst das über das ganze Deck. Nachher rutscht jemand aus und fällt deswegen über Bord. Mit der Zeit bist du dann irgendwann allein auf dem Schiff.«
»Deinen Humor hast du zu Glück nicht verloren. Den habe ich in der langen Zeit fast am meisten vermisst.«
Sie knuffte ihn in die Seite und verabschiedete sich. Sie würden sich eh beim Essen wieder treffen. Es wurde Zeit, den Rest der Mannschaft zu treffen, zu begrüßen, Erinnerungen aufzufrischen, über alte Geschichten zu lachen und neue auszutauschen.
Über all dem wachte Kapitänin Deborah, die auf der Brücke stand und den Kurs im Auge behielt. Dabei blickte sie immer wieder auf ihre aufgeweckte Tochter, die nun sehr viel glücklicher aussah, als noch am Abend zuvor im Hafen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie für so eine lange Zeit in der Stadt und in der Schule allein zurück zu lassen. Aber nun hatte sich alles zum Guten gewendet. Nun wartete die Zukunft auf die Piratenseele und alle, die auf ihr das Meer durchkreuzten.