Herr Severin zog mit Kasperle wieder durch den Wald. Abwärts ging’s, immer tiefer ins Tal hinein, bis sie in einem kleinen Nestlein die gelbe Postkutsche wieder erreichten. „Trara, Trara!“ blies der Postillion, Herr Severin stieg ein, der schwarze Kasten wurde aufgeladen, und fort ging es in die Weite. Kasper schaute aus seinen Gucklöchern sich die Welt an. Da sah er das Schloß, in dem Rosemarie gewohnt hatte, nun kam der Weg, den er mit dem Grafen von Singerlingen gefahren war. Und weiter ging es, immer weiter. Die Postkutsche rollte an einer Schafherde vorbei, ein langer Schäfer bewachte sie; Himmel, das war Damian! Ein Dorf tauchte auf, es war Protzendorf.
„Bis hierher geht es und nicht weiter,“ sagte der Postillion. „Ja, die Protzendorfer sind fein geworden, zu denen fährt jetzt die Post.“ Da wurde der schwarze Kasten wieder abgeladen, und Kasperle sah durch sein Guckloch die Protzendorfer Kinder den Postwagen umstehen. Seine einstigen Freunde Windgustel und Wassergustel stießen sich bald die Nasen daran. Und die Protzendorfer waren alle miteinander, der Gastwirt voran, arg enttäuscht, daß der fremde Herr nicht bleiben wollte. Sie meinten nämlich, in ihrem Dorf, in dem die Säulein alle auf der Straße herumliefen, müßte es jedem gefallen. Herr Severin aber dachte bei sich: Lieber nicht, dem Kasperle ist halt nicht zu trauen, und das wäre doch übel, wenn man ihn so kurz vor dem Ziel erwischen würde. Also nahm er seinen schwarzen Kasten und wanderte weiter, und Kasperle konnte weder Florian einen Schabernack spielen, noch seine einstigen Freunde begrüßen.
Es gab von Protzendorf nach dem Waldhaus einen Fußweg, der führte durch den dichtesten Wald und war wenig begangen. Ihn schlug Herr Severin ein. Kasperle durfte den Kasten verlassen, und beide wanderten fröhlich dem Waldhaus zu. Kasperle sprang wie ein Eichkätzchen, und Herr Severin strich die Fiedel dazu; wie Vogelzwitschern klang es, wie der Gesang der Nachtigall.
Und wie sie beide so dahingingen, sagte auf einmal eine liebe, warme Stimme: „Ach lieber Gott, das ist ja Kasperle!“ Ganz tief im Grünen, unter einer uralten Tanne, saß Liebetraut, und neben ihr weidete ein Reh. Herr Severin blieb stehen, Kasperle aber stürzte mit einem so lauten Jubellaut Liebetraut zu, daß das Reh eilends entfloh. „O Kasperle, du liebes, schlimmes Kasperle!“ sagte Liebetraut, „wo kommst du her?“
„Nicht böse sein!“ bettelte Kasperle und huschelte sich an Liebetraut an. Das schöne Mädchen lächelte, sie streichelte des Kasperles Strubelkopf und sagte froh: „Nur gut, daß du wieder da bist, du Schelm, du Ausreißer, du mein kleiner Liebling du!“
Und nun erzählte Kasperle, wie es ihm ergangen war, und Liebetraut lachte und weinte; dann sagte sie, der Kasperlemann sei schon zweimal dagewesen und habe gefragt, ob das Kasperle noch nicht zurück sei. Doch könne er hier nichts machen, gerade das Waldhaus liege an der Grenze, und der Fürst dieses Landes und der Herzog, die seien nicht gut Freund mitsammen. Hier dürfe ihn drum der Herzog nicht mehr fangen, aber in Protzendorf wohne jetzt ein Landjäger, um aufzupassen, und Florian und Damian hätten gesagt, wenn sie Kasperle fingen, würde es ihm übel ergehen.
„Komm,“ bettelte Kasperle ängstlich, „wir wollen ins Waldhaus!“
Liebetraut stand auf, und alle drei schritten sie dem Waldhaus zu. „Jetzt kommt gleich die Grenze,“ sagte Liebetraut; „Kasperle, schlupf’ flink in den Kasten, mir wird so bange! Manchmal steht ein Landjäger an der Grenze.“
Da kroch Kasperle in den Kasten, und kaum hatte den Herr Severin wieder zugeklappt, da trat wirklich ein Landjäger aus dem Gebüsch. „Halt!“ schrie der, „ich muß alles untersuchen, ob hier nicht jemand ein Kasperle über die Grenze trägt.“
Herr Severin begann auf seiner Geige zu spielen, wundersam klang es, dazu sagte er: „Ich komme von des Herzogs Jagdschloß, aber der Herzog hat mir kein Kasperle geschenkt.“ Darüber mußte der Landjäger lachen, und weil er auch dachte: So ein feiner Mann, der so schön spielen kann, was hat der mit einem Kasperle zu schaffen! ließ er Herrn Severin und Liebetraut ziehen. „Dies vermaledeite Kasperle!“ schalt er; „seit Wochen suchen wir danach, mal ist es da, mal ist es dort, und nie fängt man es.“
„Ja, ja, es ist wohl ein schlimmer Schelm, paßt nur gut auf, daß es Euch nicht an der Nase vorbeiläuft!“ sagte Herr Severin lustig.
„Mir nicht!“ schrie der Landjäger; „ha, ich bin ein ganz Schlauer, mir entwischt das Kasperle nicht!“
Herr Severin fing rasch wieder an auf seiner Geige zu spielen. Diesmal war es ein heiteres Stücklein, das sollte das Lachen übertönen, das aus dem schwarzen Kasten klang. Kasperle wollte nicht lachen, er konnte aber nicht an sich halten. Er kicherte immerzu, und der Landjäger rief Herrn Severin noch nach: „Ei, Herr, Ihr könnt aber fein spielen, es ist ja beinahe, als lache Eure Geige!“
„Paßt auf, daß Kasperle Euch nicht entwischt!“ rief Herr Severin noch, und da lachte auch Liebetraut. Lachend schritten sie weiter, und auf einmal tauchte das Waldhaus vor ihnen auf. Nun ließ Herr Severin das Kasperle wieder aus dem schwarzen Kasten heraus. Da tat der einen lauten Freudenruf. Vor ihm lag das Waldhaus, ganz umblüht von einem sommerbunten Garten. Seine Fenster standen offen, und an einem der offenen Fenster saß Meister Friedolin und schnitzte. Kasperle rannte mit lautem Jubelgeschrei auf das Haus zu, und dem Meister Friedolin entfiel sein Schnitzmesser vor Staunen. Je, was war denn das!
Kasperle war wieder da, das Kasperle!
Mutter Annettchen kam herbei, sie hielt die Bratpfanne in der Hand, so schnell war sie vom Abendessenkochen weggelaufen.
Und Kasperle mußte erzählen immerzu, und dazwischen mußte er essen, und Herr Severin wurde genötigt, als Gast im Waldhaus zu bleiben. Er bekam das allerschönste Zimmer im Oberstock. Da schaute ihm der Wald in die Stube hinein, und Herr Severin spielte darin bis spät in die Nacht so wunderschön, daß Liebetraut auf ihrem Bette saß und vor Freude weinte.
Kasperle aber schlief fest und traumlos. Und als er am nächsten Morgen aufwachte, stand Liebetraut an seinem Bette, die lachte ihn an und sagte: „Kasperle, weißt du es denn, du bist wieder daheim, bist im Waldhaus!“
Kasperle sprang mit einem Satz aus dem Bett. Im Waldhaus, daheim! Nun wurde er nicht mehr verfolgt, brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Wie herrlich das war!
Herrn Severin gefiel es so gut im Waldhaus wie dem Kasperle. Er mußte freilich nach einigen Wochen wieder in die Weite ziehen, mußte spielen vor fremden Leuten und mußte Instrumenten eine Seele geben. Aber er wollte wiederkommen, und dann wollte Liebetraut seine liebe Frau werden, und sie wollten alle mitsammen im Waldhaus wohnen. Auch das Michele, denn Herr Severin sagte, sein Versprechen müsse er halten. Ach, das Michele!
Kasperle kugelte sich im Wald herum vor Freude, wenn er daran dachte, daß Michele kommen würde. Dann war er nicht mehr allein, dann hatte er einen lieben, lieben Kameraden.
„Denkst du noch an das Fortlaufen?“ fragte ihn Liebetraut manchmal. Da schüttelte er immer heftig den Kopf und schrie: „Nein, nein, nein, ich will immer, immer im Waldhaus bleiben!“
Er hütete sich auch wohl, im Wald über die Grenze zu laufen, und als nach etlichen Wochen der Kasperlemann wieder erschien, da kroch Kasperle in das Bett und zog sich die Decke tief über die Ohren. Aber der Kasperlemann merkte doch, daß Kasperle wieder daheim war; er schnüffelte im Hause herum, doch Liebetraut hatte Kasperles Kämmerlein abgeschlossen und trug den Schlüssel in ihrer Tasche. Da mußte der Kasperlemann abziehen, und Kasperle blieb im Waldhaus. Er ließ sich auch nicht verlocken, als ein paar Tage später ein Handelsmann erschien, der ihm wunderschöne Dinge versprach und ihn bat, er solle ihm nur ein Stück seinen Kasten tragen. O nein, Kasperle war draußen in der Welt gescheit geworden, der ließ sich nicht fangen! Und der Herr Herzog konnte sich so viel ärgern, soviel er wollte, Kasperle bekam er doch nicht.
Im Winter kam dann Herr Severin wieder. Im Waldhaus gab es eine stille, fröhliche Hochzeit. Und dann, nach einigen Wochen, kam ein Gast; der gute Herr Habermus war es, der brachte das Michele mit. Da gab es ein frohes Wiedersehen, und als Herr Habermus nach etlichen Tagen wieder heimreiste, sagte er: „Kasperle, du warst zwar ein schlimmer Schüler, aber ich hätte dich doch gern wieder in meiner Schule sitzen. Freilich, im Waldhaus hast du es am allerbesten.“
Und das war wahr. Nirgends, fand Kasperle, sei es so schön wie im Waldhaus; nur vielleicht auf der Kasperleinsel war es noch schöner. Doch niemand wußte, wo die lag, niemand kannte des Kasperles eigentliche Heimat.