Der Weg führte Dorothy und ihre Gefährten immer tiefer in den Wald hinein. Er war zwar immer noch aus gelben Ziegelsteinen, aber überall lagen Zweige und braune Blätter herum und erschwerten das Gehen. Es gab nur noch wenige Vögel, denn Vögel lieben den Sonnenschein. Hier aber war es düster, und die Vögel mieden diesen Teil des Waldes. Ab und zu hörte man ein unheimliches Fauchen oder Knurren aus dem Dickicht. Diese Geräusche ängstigten Dorothy, und ihr Herz schlug schnell und ängstlich. Toto lief dicht neben Dorothy und bellte nicht.
„Wie lange dauert es wohl noch, bis wir aus diesem Wald heraus sind?“ fragte Dorothy den Holzfäller. „Ich weiß es nicht“, gab dieser zu. „Ich war noch nie in der Smaragdstadt. Mein Vater war einmal dort, als ich ein kleiner Junge war, und er erzählte mir von seiner langen gefährlichen Reise. Je näher man aber an die Smaragdstadt herankommt, desto lieblicher wird die Landschaft wieder. Aber was soll schon sein, Dorothy? Dem Scheuch kann nichts geschehen, ich bin aus Blech und habe meine Ölkanne stets griffbereit, und dich hat die Fee des Nordens geküsst. Es kann uns nichts zustoßen.“ „Aber was ist mit Toto?“ „Auf den müssen wir eben alle aufpassen, wenn Gefahr droht“, beruhigte der Holzfäller das Mädchen.
In diesem Augenblick erscholl ein schauerliches Gebrüll aus dem Wald, und im nächsten Moment sprang ein riesiger Löwe auf den gelben Ziegelweg. Er fegte den Scheuch mit einem gewaltigen Tatzenhieb beiseite, so dass dieser durch die Luft flog, sich überschlug und am Rande des Weges liegen blieb. Dann kratzte er den Holzfäller mit seinen scharfen Krallen. Der Löwe war überrascht, dass er dem dicken Blech nichts anhaben konnte, aber der Holzfäller fiel dennoch zu Boden und blieb dort bewegungslos liegen.
Der tapfere Toto sah sich nun einem Feind gegenüber und bellte wild. Der Löwe war wenig beeindruckt, öffnete das Maul und wollte Toto verschlingen. Dorothy war in großer Angst um ihr Hündchen, und in ihrer Verzweiflung sprang sie hervor und schlug dem Löwen so fest sie konnte auf die Nase. „Wage es nicht, meinen Hund zu beißen!“ schrie sie. „Schäme dich lieber! Ein so großer Löwe wie du macht sich an solch einen kleinen Hund heran.“ „Ich habe ihn nicht gebissen“, sagte der Löwe und rieb sich mit der Pfote seine Nase. „Aber du wolltest es“, fuhr Dorothy ihn an. „Du bist nichts als ein riesengroßer Feigling!“
Der Löwe ließ beschämt den Kopf sinken. „Ich weiß“, flüsterte er. „Ich hab’ es schon immer gewusst. Aber was soll ich denn machen?“ „Was weiß ich! Wenn ich nur daran denke, dass du einen ausgestopften Scheuch und einen Holzfäller aus Blech so erschreckst!“ rief Dorothy, die immer noch wütend war. „Er ist ausgestopft? Deshalb war er so leicht. Ich hab’ mich schon gewundert. Und der andere? Ist der auch ausgestopft?“ „Nein, schau doch hin. Er ist aus Blech!“ und Dorothy bückte sich, um dem Holzfäller wieder auf die Beine zu helfen. „Deshalb sind meine Krallen beinahe stumpf geworden, als ich ihn kratzte. Und das Geräusch... Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
Was ist das für ein kleines Tier, dessentwegen du mich auf die Nase gehauen hast?“ „Das ist mein Hund Toto.“ „Ist er aus Blech oder ist er auch ausgestopft?“ „Weder noch. Er ist einfach ein Hund aus Fleisch und Blut. Verstehst du mich?“ schnaubte Dorothy. „Ja, schon gut“, lenkte der Löwe ein. „Er ist wirklich ein seltsames Tier und wirklich sehr klein. Wenn ich ihn mir so angucke, ist mir klar, dass niemand so ein kleines Tier beißen würde außer einem Feigling wie mir.“
„Warum bist du denn so feige?“ fragte Dorothy neugierig. „Du bist doch riesengroß. Du bist ein Löwe! Wovor solltest du dich fürchten?“ „Ich weiß es nicht“, erklärte der Löwe traurig, „ich befürchte, ich bin schon so geboren. Alle Tiere im Wald denken, dass ich tapfer bin, denn ein Löwe ist überall der König der Tiere. Wisst ihr, wenn ich besonders laut brülle, dann haben alle Angst vor mir und laufen davon. Das ist praktisch. Immer wenn ich jemanden traf, der mir Angst machte –Tier oder Mensch –, dann brüllte ich laut, und jeder lief davon. Und ich habe sie natürlich immer laufen lassen. Wenn irgendjemand je versucht hätte, mich anzugreifen, dann hätte ich selbst weglaufen müssen, solch ein Feigling bin ich.“
„Richtig ist das aber nicht“, mischte sich der Scheuch ein. „Der König der Tiere darf eigentlich kein Feigling sein.“ „Vielleicht bist du herzkrank“, warf der Holzfäller ein. „Das könnte sein“, antwortete der Löwe. „Falls du herzkrank bist, solltest du froh sein. Es beweist nämlich, dass du ein Herz hast, das krank werden kann. Ich für meinen Teil habe kein Herz und kann deshalb auch nicht herzkrank werden.“
„Vielleicht wäre ich ohne ein Herz nicht ein solcher Feigling“, überlegte der Löwe. „Hast du denn Verstand?“ erkundigte sich der Scheuch. „Ich glaube schon. Ich habe nie nachgesehen“, gab der Löwe zurück. „Ich gehe zum großen Oz, um ihn um Verstand zu bitten, denn mein Kopf ist mit Stroh ausgestopft“, sagte der Scheuch. „Und ich möchte ihn um ein Herz bitten“, ergänzte der Holzfäller. „Und ich möchte, dass er Toto und mich heim nach Kansas bringt.“ Der Löwe sah Dorothy an. „Glaubst du, er könnte mich mutig machen?“ „Das ist nicht schwieriger, als mir einen Verstand zu geben“, rief der Scheuch. „Oder mir ein Herz.“ „Oder mich heimzubringen“, lächelte Dorothy. „Wenn ihr nichts dagegen habt, dann würde ich gerne mit zu Oz gehen. Mein Leben als Feigling ist einfach unerträglich“, sagte der Löwe.
Die Gefährten sahen sich an und waren einverstanden. Einen Löwen dabei zu haben, konnte sehr nützlich sein, denn alle anderen Tiere würden vor ihm Angst haben. Sie wussten ja nicht, dass er in Wahrheit ein Feigling war. Und so machten sich die fünf wieder auf den Weg, wobei Toto sehr böse auf den Löwen war, weil dieser ihn hatte beißen wollen. Nachdem sie aber eine Weile gegangen waren, verflog Totos Ärger, und er freundete sich, wie die anderen auch, mit dem feigen Löwen an.
Sie setzten ihren Weg in die Smaragdstadt ohne nennenswerte Abenteuer fort. Nur der Holzfäller trat auf einen kleinen Käfer und tötete das arme Ding. Der Holzfäller war darüber so betrübt, dass er anfing zu weinen, und nach kurzer Zeit war sein Kiefergelenk von den Tränen so eingerostet, dass er nicht mehr sprechen konnte. Zum Glück hatte Dorothy die Ölkanne in ihrem Korb. So ölten sie das Kiefergelenk des Holzfällers, bis er wieder sprechen konnte. „Das wird mir eine Lehre sein“, sagt er. „Ich werde genau aufpassen, wo ich hintrete, und sollte ich aus Versehen noch einmal auf einen Käfer treten, werde ich nicht weinen, sonst fange ich wieder an zu rosten.“
Und der Holzfäller achtete von nun an sehr genau auf den Weg, um kein anderes Lebewesen zu verletzen oder zu töten. „Ihr Leute mit einem Herzen könnt das nicht verstehen. Euer Herz leitet euch und sagt euch, ob ihr auf dem richtigen Weg seid. Ich habe kein Herz und muss deshalb umso mehr auf mich aufpassen. Wenn Oz mir aber ein Herz gibt, dann muss ich das nicht mehr tun.“