Toto und Dorothy waren nicht lange gegangen, als die den Anfang der gelb gepflasterten Straße fanden. Die Straße nach Oz! Dorothys silberne Schuhe glitzerten in der Sonne, die hell vom Himmel schien, die Vögel zwitscherten fröhlich, und Dorothy selbst fühlte sich nicht halb so unglücklich, wie sich ein kleines Mädchen fern der Heimat und mutterseelenallein fühlen sollte.
Sie genoss die zauberhaft schöne Landschaft, die sich ihr links und rechts des Weges darbot. Hinter den blau gestrichenen Zäunen, die den Weg säumten, dehnten sich üppige Korn- und Gemüsefelder. Die Käuer mussten wirklich gute Farmer sein, wenn sie ihrem Land so reiche Ernte abgewinnen konnten. Dorothy kam auch an Häusern vorbei, deren Bewohner auf sie zuliefen und freundlich mit ihr sprachen. Alle wussten, dass sie die Hexe des Ostens getötet und damit die Käuer aus der Sklaverei befreit hatte. Und wie seltsam die Häuser der Käuer aussahen! Sie waren kugelrund und hatten Dächer wie kleine Kuppeln. Sie waren in den verschiedensten Blautönen gestrichen. Offensichtlich war blau die Lieblingsfarbe der Käuer.
Langsam wurde es Abend und Dorothy war den ganzen Tag lang gelaufen. Sie war müde und fragte sich, wo sie wohl die Nacht verbringen könnte. Und als sie noch darüber nachdachte, kam sie zu einem Haus, das deutlich größer war als alle Häuser, die Dorothy bisher gesehen hatte. Auf der grünen Wiese vor dem Haus tanzten viele Menschen zu der Musik von fünf kleinen Geigern, die so laut spielten, wie sie nur konnten. Die Käuer sangen und lachten, und alles sah sehr einladend aus.
Als die Käuer Dorothy sahen, begrüßten sie sie herzlich und luden sie zum Essen ein. Der Hausherr, ein sehr reicher Käuer, hieß Boq. Er feierte mit seinen Freunden den Tod der Hexe des Ostens und hieß Dorothy herzlich in seinem Haus willkommen. Dorothy aß und trank und ließ sich von ihrem Gastgeber verwöhnen. Als sie satt war, sagte Boq: „Du musst eine sehr mächtige Hexe sein.“ „Wieso glaubst du das?“ fragte Dorothy. „Nun, du hast die silbernen Hexenschuhe an, und du hast die Hexe des Ostens getötet. Außerdem hast du ein weißes Kleid an, und nur Zauberer oder Hexen tragen weiß.“ Dorothy sah an sich herunter. „Mein Kleid ist blau-weiß kariert“, stellte sie richtig. „Ja, du bist sehr höflich“, nickte Boq. „Blau ist die Farbe der Käuer und weiß die Farbe der Hexen und Zauberer.“ Er lächelte Dorothy freundlich an, die nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie war doch nur ein kleines Mädchen aus Kansas und keine Hexe!
Als Dorothy genug vom Tanz, vom Essen und der Gesellschaft hatte, brachte Boq sie in ein hübsches Zimmerchen, in dem sie schlafen sollte. Das Bettzeug war blau, und Toto und Dorothy schliefen traumlos bis zum nächsten Morgen.
Sie bekam ein köstliches Frühstück und sah einem Käuer-Baby dabei zu, wie es mit Toto spielte. Dann fragte sie Boq: „Wie weit ist es bis in die bis zur Smaragdstadt?“ Boq schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich bin nie dort gewesen. Weißt du, wir Käuer gehen Oz lieber aus dem Weg, wenn wir nicht wirklich eine dringende Angelegenheit haben, die nur er regeln kann. Ich weiß nur, dass der Weg sehr weit ist. Du wirst sicher ein paar Tage brauchen, um die Smaragdstadt zu erreichen. Und der Weg wird nicht überall so freundlich und nett sein wie hier. Du musst auch durch raues und gefährliches Gelände.“ Diese Auskunft beunruhigte Dorothy etwas, aber sie wusste, dass nur Oz ihr helfen konnte und dass sie tapfer sein musste. Sie verabschiedete sich bald von den freundlichen Käuern und ging zurück auf den gelben Ziegelsteinweg.
Als Dorothy schon einige Kilometer gegangen war, wollte sie eine Pause einlegen. Sie kletterte auf einen Zaun und ließ sich dort nieder. Sie blickte auf ein großes Kornfeld, in dessen Mitte eine Vogelscheuche aufgestellt worden war. Der Kopf der Vogelscheuche war ein mit Stroh ausgestopfter Sack, mit einem aufgemalten Gesicht. Auf dem Kopf trug die Vogelscheuche einen alten blauen Hut, der sicherlich einmal einem Käuer gehört hatte. Der Körper bestand aus einem alten blauen Anzug, der ebenfalls mit Stroh ausgestopft war. An den Füßen trug die Vogelscheuche alte blaue Schuhe. Sie war auf einem Stock befestigt und schwebte hoch über den Kornähren.
Gedankenverloren betrachtete Dorothy die Vogelscheuche. Was war das? Hatte die Vogelscheuche ihr etwa gerade zugeblinzelt? Dorothy sah genauer hin. In Kansas gab es keine Vogelscheuchen, die einem zublinzelten. Tatsächlich! Jetzt nickte die Vogelscheuche sogar freundlich mit dem Kopf. Dorothy kletterte von ihrem Zaun herunter und trat an die Vogelscheuche heran. Toto blieb dicht auf ihren Fersen und bellte die Vogelscheuche lauthals an.
„Guten Tag!“, sagte die Vogelscheuche mit heiserer Stimme. „Hast du gerade wirklich etwas gesagt?“, fragte Dorothy ungläubig und starrte sie an. „Aber sicher“, antwortete die Vogelscheuche und nickte wieder freundlich mit dem Kopf. „Wie geht es dir?“ „Mir geht es gut“, antwortete Dorothy etwas verwirrt. „Und selbst?“ Die Vogelscheuche versuchte sich zu strecken. „Ach, besonders gut geht es mir nicht. Es ist langweilig, tagein tagaus hier zu hängen und die Krähen zu verscheuchen.“ „Kannst du denn nicht herunter kommen?“ fragte Dorothy den Scheuch. „Nein. Die Stange steckt zu fest in meinem Rücken. Ich kann beim besten Willen nicht herunter. Oder meinst du, du könntest mich herunterholen?“ „Ich könnte es probieren“, sagte Dorothy bereitwillig.
Sie fasste den Scheuch um die Mitte, stellte sich auf die Zehenspitzen und hob ihn von der Stange herunter. Das ging natürlich nur, weil der Scheuch mit Stroh ausgestopft und deshalb sehr leicht war. „Vielen Dank“, seufzte der Scheuch erleichtert und setzte sich. „Ich fühle mich gleich wie ein neuer Mann.“ Dorothy war etwas verwirrt, schließlich redet man ja nicht jeden Tag mit einer Vogelscheuche. „Wer bist du eigentlich?“ fragte der Scheuch Dorothy, während er sich genüsslich reckte und streckte. „Wo willst du hin?“ „Ich heiße Dorothy. Ich bin auf dem Weg in die Smaragdstadt, um den großen Zauber Oz zu bitten, mich nach Kansas zurückzubringen.“
Der Scheuch überlegte eine Weile. „Wo liegt die Smaragdstadt und wer ist Oz?“ „Sag nur, dass du das nicht weißt“, wunderte sich Dorothy. Der Scheuch schüttelte betrübt den Kopf. „Ich weiß gar nichts. Schließlich habe ich statt eines Gehirns nur Stroh im Kopf. Was erwartest du also?“ „Verzeihung!“ sagte Dorothy erschrocken. „Das wusste ich nicht.“ „Meinst du, der Zauber von Oz ist so mächtig, dass er mir ein Gehirn geben könnte?“ fragte der Scheuch aufgeregt. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Dorothy. „Aber du kannst doch mitkommen und den Zauberer danach fragen. Wenn er es nicht kann, bist du nicht schlechter dran als jetzt.“ „Du hast Recht“, lachte der Scheuch. „Es macht mir nichts aus, mit Stroh ausgestopft zu sein. Eigentlich ist es ganz praktisch, weil mir nichts weh tun kann. Aber dass ich auch Stroh im Kopf habe, ärgert mich. Ich möchte nicht, dass die Leute mich einen Narren schimpfen. Aber wenn ich nur Stroh im Kopf habe, kann ich ja nie etwas lernen, richtig?“
Dorothy nickte verständnisvoll. „Komm einfach mit mir mit. Ich frage den Zauberer, ob er dir helfen kann.“ „Oh danke schön!“ Der Scheuch sprang auf, und Dorothy half ihm, über den Zaun zu klettern. Toto bellte aufgeregt, denn er freute sich nicht sehr über die seltsame Gesellschaft. „Hab’ keine Angst. Toto beißt nie“, beruhigte Dorothy den Scheuch. „Ich habe keine Angst. Er kann mich ruhig beißen. Ich spüre keine Schmerzen. Gib’ mir deinen Korb. Ich werde ihn für dich tragen, denn ich werde auch nicht müde. Und wenn du willst, verrate ich dir ein Geheimnis. Es gibt nur ein Ding, vor dem ich mich wirklich fürchte.“ „Wovor fürchtest du dich? Vor dem Farmer, der dich gemacht hat?“ Der Scheuch schüttelte verächtlich den Kopf. „Nein, vor dem fürchte ich mich nicht. Ich habe nur Angst vor einem brennenden Streichholz.“