Schließlich trat die alte Frau vor und verbeugte sich vor Dorothy. „Ich heiße dich hier im Land der Käuer willkommen. Wir sind dir sehr dankbar, dass du die böse Hexe des Ostens mit deinem fliegenden Häuschen getötet und die Käuer aus der Knechtschaft befreit hast.“ Dorothy starrte die Frau verwundert an und stotterte: „Der Sturm... das Häuschen... ich weiß nicht... verzeihen Sie, aber sicherlich verwechseln Sie mich. Ich habe niemanden getötet.“ Die alte Frau lächelte und antwortete: „Dann war es eben dein Häuschen, aber das ist nun auch egal. Die böse Hexe des Ostens ist tot, das ist alles, was zählt. Dein Häuschen ist ihr direkt auf den Kopf gefallen und hat ihr den Garaus gemacht. Sieh selbst!“ Und sie deutete auf ein paar Füße in rot-weiß geringelten langen Strümpfen und silbernen Schnabelschuhen, die unter dem Häuschen hervorragten.
Dorothy schrie erschrocken auf. „Wir müssen ihr helfen. Du liebe Zeit, das Haus muss sie direkt getroffen haben.“ „Eben, eben“, nickte die alte Frau. „Die böse Hexe ist tot, da kann man nichts mehr machen. Sie war sehr böse und hat die Käuer jahrelang unterdrückt und gequält. Jetzt aber haben sie ihre Freiheit wieder, und das haben sie nur dir zu verdanken.“ Dorothy sah ratlos aus. „Sind Sie denn auch ein... Käuer?“ „Nein, ich bin nur mit dem Volk der Käuer befreundet. Sie schickten nach mir, als dein Haus der bösen Hexe des Ostens auf den Kopf fiel. Ich bin die Hexe des Nordens.“
Dorothy wurde blass. „Sie sind eine echte Hexe?“ „Das bin ich wohl, aber hab’ keine Angst. Ich bin eine gute Hexe und alle mögen mich. Leider bin ich nicht so mächtig, wie die Hexe des Ostens es war. Sonst hätte ich die Käuer schon selbst befreit.“ „Sind nicht alle Hexen böse?“ Die Hexe des Nordens schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Im Lande Oz gab es vier Hexen: zwei gute Hexen, die Hexe des Südens und ich, und zwei böse Hexen, die Hexe des Westens und die Hexe des Ostens, die jetzt dort liegt.“ „Meine Tante sagt, es gibt gar keine Hexen mehr“, sagte Dorothy trotzig. „Nun, vielleicht gibt es in eurem Land keine Hexen mehr. Aber in Oz gibt es sie noch, denn Oz liegt weitab von der Welt und ist nie wirklich modern und zivilisiert gewesen. Hier gibt es Hexen, Magier, Zauberer und Geisterwesen aller Art. Und der größte Zauberer ist Oz selbst. Er hat mehr Macht als wir alle zusammen. Er lebt in der Smaragdstadt.“
Noch während die Hexe des Nordens sprach, entstand unter den drei Männern eine Unruhe und sie deuteten wieder auf das Häuschen. Die Hexe des Nordens folgte ihren Fingern mit ihrem Blick und lachte laut auf. Die Füße der Hexe des Ostens waren verschwunden. Nur noch ihre silbernen Schuhe waren von ihr übrig geblieben. Dorothy war sehr aufgeregt, aber die Hexe des Nordens beruhigte sie. „Nun, nun, Kindchen. Die Hexe des Ostens war so alt, dass sie in der Sonne einfach verdampft ist, wie Wasser auf einer heißen Herdplatte. Nun ist sie wirklich fort. Hier“, sie bückte sich nach den Schuhen, „nimm du sie. Du hast sie verdient. Es steckt ein geheimer Zauber in ihnen, doch leider weiß ich nicht, welcher.“
Dorothy nahm die Schuhe und bedankte sich. „Ich würde gern nach Hause zurückkehren. Können Sie mir vielleicht den Heimweg zeigen?“ Die Männer wiegten bedenklich ihre Köpfe, und die kleinen Glöckchen klingelten leise. „Das ist nicht so einfach.“, erklärte die Hexe des Nordens. „Um das Land Oz herum liegt eine große und schreckliche Wüste. Niemand hat sie bisher durchqueren können. Und wenn du durch das Land des Westens gehst, fällst du der bösen Hexe des Westens und ihren Flügelaffen in die Hände. Nein, Kind, du kannst nicht zurück! Du musst wohl oder übel hier bei uns bleiben.“
Als hätte er verstanden, was die Hexe sagte, fing Toto an zu winseln und Dorothy brach in Tränen aus. Die Käuer sahen Dorothys Tränen und begannen nun ihrerseits zu weinen. Umständlich zogen sie ihre Taschentücher aus den Hosentaschen und putzen sich geräuschvoll die Nasen. Die Hexe des Nordens sah sich das Elend an, nahm dann ihren spitzen Hut ab und balancierte ihn auf der Nase. Dazu sprach sie feierlich: „Eins – Zwei – Drei .“ Der Hut verwandelte sich in eine Tafel, auf der mit weißer Kreide geschrieben stand: ‚Dorothy muss in die Smaragdstadt gehen’. Die Hexe las die Botschaft auf der Tafel und sah Dorothy an: „Du heißt Dorothy, nicht wahr?“ Und als Dorothy nickte, fuhr sie fort: „Dann musst du in die Smaragdstadt gehen. Vielleicht kann Oz dir helfen. Die Smaragdstadt liegt genau in der Mitte des Landes und wird von Oz regiert.“ „Ist Oz ein guter Mensch?“, wollte Dorothy wissen. „Er ist ein sehr guter Zauberer. Ob er ein Mensch ist, kann ich dir allerdings nicht sagen, denn ich habe ihn noch nie gesehen.“
„Können Sie mich nicht auf meinem Weg begleiten?“ Bittend sah Dorothy die Hexe des Nordens an. „Nein, Kind, das kann ich nicht. Aber ich verspreche dir, dass ich mit all meinen Hexenkräften dafür sorgen werde, dass dir nichts geschieht. Komm her!“ Dorothy trat an die Hexe heran, die sich zu ihr beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. „Dieser Kuss beschützt dich vor allem Bösen, denn niemand wird es wagen, einem Wesen etwas zu Leide zu tun, das von der Hexe des Nordens geküsst wurde. Und nun sieh her: Der Weg in die Smaragdstadt ist mit gelben Ziegeln gepflastert. Du kannst ihn gar nicht verfehlen. Fürchte dich nicht vor dem großen Oz, sondern erzähle ihm deine Geschichte. Und nun geh, Kleines!“
Die drei Käuer verneigten sich vor Dorothy und gingen davon. Die Hexe nickte Dorothy noch einmal freundlich zu, drehte sich dann dreimal auf ihrem linken Absatz um die eigene Achse und war und war im nächsten Augenblick verschwunden. Dorothy blieb allein zurück und bemerkte erst später den runden, schimmernden Fleck, den der Kuss der Hexe auf ihrer Stirn hinterlassen hatte.