Oberst Grangerford war ein Gentleman, vom Scheitel bis zur Sohle. Jeden Morgen rasierte er sich. Seine Haut war sehr bleich. Er hatte die dünnsten Lippen, die man sich vorstellen kann und ganz kleine Nasenlöcher, eine starke Nase und buschige Augenbrauen. Seine Augen lagen so tief, dass es aussah, als wenn sie einen aus Höhlen anguckten. Überhaupt war er eine imponierende Erscheinung. Außerdem benahm er sich gut und jeder hatte ihn gerne um sich; schon wegen seiner guten Laune.
Der Tagesablauf war sehr steif und wohlerzogen. Das respektvolle Miteinander stellte die Sitten der Witwe noch in den Schatten. Jeder von der Familie hatte seinen Neger zur Bedienung, sogar Buck. Mein Neger hatte eine schöne Zeit, weil ich es nicht gewohnt war, was für mich machen zu lassen. Aber der von Buck war den ganzen Tag auf den Beinen.
Dem alten Herrn gehörten einige Farmen und über hundert Neger. Es kam Besuch, manchmal für mehrere Tage und dann gab es großes Essen und Picknicks oder Tanzereien und Bälle. Diese Leute waren meistens Verwandte von der Familie. Die Männer brachten immer ihre Flinten mit. Alles feine Leute.
In der Gegend lebte noch eine andere aristokratische Sippe. Die Shepherdsons bestanden aus fünf oder sechs Familien. Sie waren ebenso vornehm und reich wie die Grangerfords. Sie benutzten dieselbe Dampferhaltestelle und wenn ich manchmal dorthin kam, dann war da fast immer ein Haufen von den Shepherdsons auf ihren schönen Pferden.
Einmal waren Buck und ich im Gebüsch, als der junge Harney Shepherdson vorbeigaloppierte. Da hörte ich Bucks Flinte dicht an meinem Ohr losgehen und Harneys Hut fiel runter. Er griff nach seiner Flinte und ritt in unsere Richtung. Aber wir warteten nicht, wir rannten in den Wald rein. Als ich zurückblickte, sah ich Harney zweimal auf Buck anlegen, aber er schoss nicht. Zuhause waren alle sehr stolz auf den Sohn. Nur Miss Sophia wurde blass, doch die Farbe kam wieder, als sie hörte, dass der junge Mann nicht verletzt worden war.
Buck erklärte mir, dass es sich hier um eine alte Familienfehde geht. Er wüsste zwar nicht genau, was für ein Streit dem Ganzen voranging. Sein Vater wüsste es bestimmt. Aber die Kämpfe, die dauerten schon ewig und es gab immer wieder Verletzte. In diesem Jahr gab es sogar schon auf jeder Seite einen Toten.
Am Sonntag ritten wir drei Meilen weit zur Kirche. Es war so langweilig, wie ich es von der Witwe und St. Petersburg gewohnt war. Nach dem Essen döste alles rum. Ich ging rauf in unser Zimmer und wollte auch ein Nickerchen machen. Da stand die liebliche Miss Sophia vor ihrer Zimmertür.
Sie nahm mich mit rein und bat mich, in der Kirche ihr Neues Testament zu holen. Sie hätte es zwischen zwei anderen Büchern liegen gelassen, erklärte sie aufgeregt. Ich sagte ja. Dann schlich ich raus auf die Straße. Mich überkam zwar das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmen konnte, aber trotzdem ging ich in die Kirche.
Als ich das Buch anstieß, fiel ein Stück Papier raus, auf dem geschrieben stand: "Halb drei." Wieder zurück, stand Miss Sophia bereits da und zog mich in ihr Zimmer. Dort blätterte sie das Neue Testament durch, bis sie den Zettel fand. Sie sah ganz glücklich aus, als sie ihn las und drückte mich ganz fest an sich und sagte, ich wäre der beste Junge der Welt. Aber ich dürfte Niemandem davon erzählen.
Ich ging runter zum Fluss und dachte über die Geschichte nach. Bald merkte ich, dass mir mein Neger nachkam. Als uns keiner mehr sehen konnte, kam er zu mir gelaufen.
"Master George, wenn sie mit mir ins Moor kommen wollen, will ich Ihnen einen Haufen Wasserschlangen zeigen."
Das kam mir komisch vor. Er hatte es mir gestern schon gesagt, aber ich mag Schlangen gar nicht so gerne. Was hat er bloß vor. Ich folgte ihm eine halbe Meile, dann bog er ins Moor ein. Wir gingen durch Schlamm und unter wilden Büschen durch. Auf einmal hielt er an einer Stelle, sagte ich solle rumgucken. Er hätte sie schon gesehen. Dann drehte er sich um und ging weg.
Ich stöberte eine Weile an der Stelle rum und kam schließlich an ein kleines offenes Fleckchen. Da sah ich einen Mann auf der Erde schlafen, und beim Himmel: Es war mein alter Jim!
Ich weckte ihn und dachte, es wäre für ihn eine große Überraschung. Aber er war in der Nacht, als wir mit dem Dampfer zusammengestoßen waren, hinter mir hergeschwommen und hätte mich auch immer rufen hören. Nur antworten wollte er nicht, weil er Angst davor hatte, wieder in die Sklaverei geschleppt zu werden. Die Neger aus dem Haus hätten ihn auf dem Laufenden gehalten und jeden Tag etwas zu essen gebracht.
Inzwischen, so erzählte Jim, hätte er Töpfe, Pfannen und Lebensmittel gekauft und das alte Floß geflickt. Das war zwar ziemlich kaputt, aber es war noch zu retten.
Am nächsten Tag, als ich aufwachte, war Buck schon aufgestanden. Es war unnatürlich still im Haus. Als ich Jack traf, erzählte er mir, dass Miss Sophia einfach weggelaufen sei, durchgebrannt. Sie wolle den jungen Harney Shepherdson heiraten, so heißt es.
Alles was Beine hatte machte sich mit Flinten auf den Weg. Beide Parteien kämpften bitter und wollten sich nichts nachsagen lassen. Doch trotz der Verluste auf beiden Seiten konnten Miss Sophia und der junge Harney über den Fluss entkommen. Das stimmte mich froh.
Ich saß am Ufer auf einem Baum und beobachtete die erbitterte Schlacht. Mir wurde so übel, dass ich mir wünschte, ich wäre nie zum Ufer gekommen. Am Ende war ich Zeuge, wie Buck und sein Mitstreiter getötet wurden. Als ich Bucks Gesicht zudeckte, weinte ich. Er war immer so gut zu mir gewesen.
Inzwischen war es dunkel geworden. Ich machte einen Bogen um das Haus und suchte nach Jim. Ich rannte zum Ufer und auf dem Floß drückte mich Jim an sich, so freute er sich, dass ich wieder da war.
Sie werden sicher denken, dass ich tot bin, sagte ich zu Jim. Sie werden mich bestimmt nicht suchen. Also los, Jim, rasch in die Strömung, so schnell wie du kannst.
Erst als das Floß zwei Meilen weit getrieben war und wieder mitten im Mississippi schwamm, wurde mir leichter ums Herz. Wir hängten unsere Signallaterne auf, denn wir hielten uns für frei und völlig in Sicherheit. Seit gestern hatte ich nichts mehr gegessen. Also holte Jim ein paar Maiskuchen, Schweinefleisch, Kohl und Buttermilch raus. Wir schwatzten und ließen es uns wohl sein.
Ich war heilfroh, dass wir der Fehde entwischt waren und Jim war ebenso froh, aus dem Moor entkommen zu sein. Überall auf der Welt ist es voll und drückend. Aber auf einem Floß fühlt man sich herrlich frei und behaglich.