Wenig später saß ich bei der Frau auf einem Stuhl und stellte mich vor als "Sara Williams". Ich erklärte, dass ich aus Hookerville, sieben Meilen flussabwärts, kommen würde und den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt hätte. Ich tischte ihr ein Märchen auf von meiner angeblich kranken Mutter, die ganz arm wäre und mich zu meinem Onkel, den Abner More, geschickt hätte. "Ich bin noch nie bei ihm gewesen. Kennen Sie ihn?", fragte ich.
"Nein. Ich wohne erst seit zwei Wochen hier. Deshalb kenne ich hier keinen. Du kannst gerne über Nacht hier bleiben. Binde doch dein Kopftuch ab."
"Ach nein", sagte ich, "ich will nur ein wenig ausruhen. Ich hab keine Angst, im Dunkeln weiterzugehen."
Sie sagte, in einer Stunde ungefähr käme ihr Mann und der könnte mich ja begleiten. Dann erzählte sie mir von ihrem Mann und ihren Verwandten und dass es ein Fehler gewesen wäre, in die Stadt zu ziehen. Sie redete so lange, bis ich mich fragte, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war, in die Stadt zu kommen, um rauszukriegen, was los war.
Aber nach einer Weile erzählte sie dann von meinem Alten und dem Mord. Da war es mir wieder recht. Sie kannte die ganze Geschichte von Tom und dem Geld und mir. Ich fragte: "Und wer bitte soll Huck Finn denn umgebracht haben?"
"Die meisten Leute glauben ja, dass es der alte Finn selber war. Aber dann hat man entdeckt, dass der alte Neger Jim durchgebrannt ist. Der könnte es auch gewesen sein."
Es fiel mir schwer, den Mund zu halten. Die Frau erzählte auch schon weiter. "Auf den Kopf des Negers haben sie dreihundert Dollar gesetzt. Und zweihundert Dollar Belohnung auf den Kopf des alten Finn. Am Morgen nach dem Mord hat er erst mitgeholfen zu suchen, aber dann ist er spurlos verschwunden, noch eh er gehenkt werden konnte. Dann kam er noch einmal zurück, nachdem er erfahren hatte, dass man nach Jim sucht. Da holte der Alte beim Richter Thatcher Geld, um nach dem Neger zu suchen. Der hat ihm auch welches gegeben. Das hat der alte Finn dann noch am gleichen Abend versoffen und ist mit einem Rudel Kerle durchgebrannt. Und wenn er schlau ist, dann wartet er ein Jahr, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Dann kriegt er auch sofort das Geld von Huck, denn beweisen kann man ihm ja nichts."
Sie erzählte weiter, dass es immer noch Leute gab, die den Neger Jim suchten. Allein wegen der dreihundert Dollar, das wäre ja klar. Und sie vermutete ihn auf der Insel, gegenüber. Denn dort hätte sie vor wenigen Tagen mal Rauch über der Insel gesehen, obwohl dort nach Aussagen der Leute keine Menschenseele wohnen würde. Deshalb meinte sie, dass es sich schon lohnen würde, mal da drüben nachzusehen.
Plötzlich wurde ich aufgeregt und konnte die Finger nicht mehr ruhig halten. Da nahm ich eine Nadel vom Tisch und versuchte, den Faden durchs Öhr zu kriegen. Aber vor lauter Zittern bekam ich es nicht hin und als ich bemerkte, dass die Frau mich mit einem komischen Lächeln beobachtete, legte ich die Nadel und den Faden auf den Tisch.
"Fährt ihr Mann diese Nacht noch rüber?", fragte ich sie.
Sie bejahte und beschrieb genau, was ihr Mann und sein Kumpel diese Nacht noch vorhatten. Plötzlich sagte sie: "Wie hast du doch gesagt, wie du heißt?"
"Ma.. Mary Williams."
Da fiel mir ein, dass ich vorher noch Sarah geheißen hatte. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Die Frau sagte eine Weile nichts, was das Ganze noch unbehaglicher machte. Schließlich sagte sie: "Kindchen, ich dachte, du heißt Sarah?"
"Ja, das stimmt auch. Ich heiße Sarah Mary Williams. Die einen nennen mich Sarah, die anderen Mary…", erwiderte ich stotternd und traute mich nicht aufzusehen.
Die Frau fing wieder an zu erzählen und über die schweren Zeiten zu jammern. Auch darüber, dass im Haus überall Ratten wären. Sie zeigte mir den Klumpen Blei, den sie immer nach den Biestern warf. Und als die nächste Ratte kam, da schmiss sie, traf aber nicht. Dann fragte sie mich, ob ich es auch mal versuchen wollte.
Eigentlich wollte ich zwar weg sein, wenn der Mann kam, aber ich durfte mir das ja nicht anmerken lassen. So nahm ich das Ding und warf es nach der nächsten Ratte. Die Frau lobte den guten Wurf und meinte, dass ich die nächste bestimmt treffen würde. Dann hob sie den Bleiklumpen auf und ich sollte ihr beim Wolle wickeln helfen. Ich streckte beide Arme aus und sie legte den Strang Wolle drüber. Dabei erzählte sie weiter. Dann ließ sie überraschend den Klumpen in meinen Schoß fallen, und im selben Augenblick presste ich meine Beine zusammen, um das Ding zu halten. Sie erzählte weiter, während sie die Wolle bearbeitete. Nach einer Minute nahm sie den Strang von meinen Armen und fragte: "Na, wie heißt du nun wirklich?"
Ich zitterte wie Espenlaub und wusste nicht, was ich tun sollte. Sie fragte, ob ich nun Tom, Bob oder Bill heißen würde… "Bitte verspotten sie nicht ein armes Mädchen. Wenn ich Ihnen lästig bin…"
"Nein, lästig bist du nicht. Bleib ruhig sitzen. Ich will dir sogar helfen. Und mein Mann auch. Du bist sicher ein durchgebrannter Lehrjunge. Man hat dich sicher schlecht behandelt. Und dann bist du ausgerissen. Erzählt mir alles, sei ein guter Junge."
Ich erzählte ihr, dass meine Eltern beide gestorben seien und ich bei einem alten ekelhaften Farmer in Pflege sei. Der hätte mich so schlecht behandelt, dass ich abgehauen sei. "… und darum bin ich auch nach Goshen gekommen, wo mein Onkel Abner More wohnt."
Die Frau rief: "Aber hier ist nicht Goshen. Du bist in St. Petersburg!"
Sie wollte wissen, wer mir den Bären denn aufgebunden hätte. Ich erzählte ihr von einem betrunkenen Mann, der mir den Weg gewiesen hätte. Dann stellte sie mir noch einige Fragen, um zu testen, ob ich wirklich auf dem Land gelebt hätte und fragte mich nach meinem richtigen Namen.
"George Peters", sagte ich.
"Ist gut. Aber vergiss den Namen nicht noch einmal. Ich lasse keine Ausrede mehr gelten. Und lass dich in den alten Fetzen nicht mehr vor Frauen sehen. Männer mögen darauf hereinfallen, aber Frauen erkennen sofort, dass du ein Junge bist. Du kannst keine Nadel einfädeln, außerdem triffst du zu gut, wenn du auf Ratten zielst und wenn dir jemand was in den Schoß wirft, dann lass die Beine breit. Mädchen sind es gewohnt, einen Rock anzuhaben. Nur Jungen kneifen die Beine zusammen wie du es gemacht hast. Und jetzt lauf zu deinem Onkel, Sarah, Mary, George oder wie du heißt. Und wenn du in Schwierigkeiten kommst, dann schick jemanden zu Mrs. Judith Lofthus, das bin ich. Dann werde ich dir helfen."
Ich ging ungefähr fünfzig Meter am Ufer entlang. Dann lief ich zu meinem Kanu und nahm Kurs auf die Insel. Ich band das Kopftuch ab und lauschte dem Schlagen der Uhr. Es war elf. Dann rannte ich zu meinem alten Lager und machte ein mächtiges Feuer. Anschließend ruderte ich mit dem Kanu zu unserem neuen Lager, das anderthalb Meilen flussabwärts lag. Ich landete und lief in unsere Höhle.
Jim lag da und schlief. "Steh auf, Jim!", schrie ich. "Wir dürfen keine Zeit verlieren. Sie sind hinter uns her!"
Jim fragte nicht, aber wie er sich in der folgenden halben Stunde benahm, zeigte deutlich, wie viel Angst er hatte. Das Feuer machten wir sofort aus und wir brachten alles was wir besaßen im Dunklen zum Floß, das unter den Weiden verborgen war. Die Nacht war sehr finster und wir ließen uns im Schatten des Ufers flussabwärts treiben. Es war totenstill.