Der Elefantentreiber wollte den Weg nach Allahabad abkürzen und bog von der Bahnstrecke, an der gebaut wurde, ab. Sir Francis und Mr. Fogg waren einverstanden. Nur ihre beiden Köpfe ragten aus den Tragstühlen. Der Parse trieb den Elefanten zur Eile an, so wurden die Reisenden kräftig durchgeschüttelt. Am Schwierigsten hatte es Passepartout, der mal auf dem Hinterteil saß und sich kurz darauf wieder am Hals festhielt. Trotzdem behielt er seine gute Laune, und reichte Kiuni immer wieder ein Stück Zucker, das dieser geschickt mit dem Rüsselende angelte.
Nach zwei Stunden machten sie eine Pause. Sir Francis Cromarty war dankbar; er fühlte sich vollkommen erschlagen. Mr. Fogg dagegen schien so frisch, als käme er gerade aus seinem Bett.
Um 12 Uhr brachen sie wieder auf. Die Landschaft wurde immer wilder. Große Wälder wechselten mit Heiden ab, in denen Tamarindenbäume und Zwergpalmen wuchsen. Gelegentlich tauchten Banden auf, die die Reisenden mit erhobener Faust bedrohten. Der Parse machte um diese Leute einen großen Bogen.
Um 8 Uhr abends erreichten sie am Fuße eines Berghanges die Ruinen eines Bungalows, wo sie ihr Nachtlager aufschlugen. Der Elefant hatte 25 Meilen zurückgelegt, genau die Hälfte der Strecke.
Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle und um 6 Uhr in der Früh brach die Gesellschaft wieder auf. Kiuni trottete im immer gleichen Tempo bergab.
Zwölf Meilen vor Allahabad hielten sie erneut an. Sie rasteten unter Bananenstauden, deren Früchte sie mit großem Genuss verzehrten.
Der Führer lenkte den Elefanten durch einen dichten Wald, der guten Schutz zu bieten schien. Es war 4 Uhr, als Kiuni plötzlich unruhig stehen blieb.
"Was gibt es?", fragte Sir Francis Cromarty und reckte den Hals in die Höhe.
"Ich weiß nicht, Herr General", antwortete der Parse. Er lauschte angestrengt und konnte bald aus dem Dickicht ein wirres Geräusch vernehmen.
Bei genauerem Hinhören, erkannten die Reisenden, dass es sich um Stimmen, vermischt mit Klängen von Blasinstrumenten handelte. Der Parse sprang vom Elefanten, band das Tier an einen Baumstamm und verschwand im Unterholz. Er kam bald zurück und sagte: "Eine brahmanische Prozession kommt unseren Weg entlang. Wir sollten uns verstecken."
Er bat die Herrschaften sitzen zu bleiben, damit sie schnell flüchten konnten, falls Gefahr bestünde. Der lärmende Zug war schon ganz nahe, nur etwas 50 Schritt vom Versteck der Reisenden entfernt. Durch das Gebüsch konnte man deutlich die Teilnehmer der seltsamen Prozession beobachten.
Vorne weg schritten Priester mit pelzbesetzten Gewändern und hohen Mützen. Um sie herum drängten sich Männer, Frauen und Kinder deren Trauergesang immer wieder von Trommelschlägen unterbrochen wurde. Hinter ihnen wurde ein Wagen mit einer Furcht erregenden Statue sichtbar. Die vierarmige Gestalt war dunkelrot angemalt. Sie hatte wilde Augen und wirres Haar. Außerdem reckte sie die Zunge weit heraus. Unter ihren Füßen lag ein enthaupteter Riese.
Sir Francis Cromarty kannte die Bedeutung der Statue: "Die Göttin Kali", flüsterte er, "die Göttin der Liebe und des Todes."
Hinter der Statue liefen ein Haufen alter Fakire und danach ein paar Brahmanen in prunkvollen Gewändern, die zwischen sich eine Frau vorwärts zerrten.
Die Unglückliche war jung und weißhäutig wie eine Europäerin. Unmengen von Schmuckstücken, Halsbänder, Armreifen, Borschen und Ringe, bedeckten Kopf, Hals, Schultern, Arme, Hände und Zehen der jungen Frau.
Die Gruppe Leibwächter, die der Frau folgten, bildeten einen schrecklichen Gegensatz. Sie trugen blanke Dolche und Pistolen in den Gürteln. Zwischen sich schleppten sie einen Tragsessel, auf dem ein Leichnam thronte.
Die Kostbaren Gewänder des Toten ließen auf einen Radschah, einen indischen Fürsten schließen. Musiker bildeten das Ende des Leichenzuges.
Sir Francis Cromarty schaute der Prozession bekümmert hinterher und sagte zu dem Parsen: "Eine Suttee!"
Der junge Eingeborene nickte bestätigend und legte den Finger an die Lippen. Der lange Leichenzug kam nur langsam unter den Bäumen voran, aber schließlich verschwanden auch die letzten Teilnehmer im dichten Wald. Bald waren die Gesänge nicht mehr zu hören. Phileas Fogg fragte: "Was ist eine Suttee?"
"Das ist ein Menschenopfer, allerdings ein freiwilliges", antwortete der General. "Die junge Frau, die sie eben gesehen haben, wird morgen früh verbrannt."
Passepartout konnte sich nicht beherrschen: "Diese Lumpen!", schrie er empört.
"Und was war das für ein Leichnam?", erkundigte sich Mr. Fogg.
"Ihr Ehemann, ein Radschah von Bundelkhand", antwortete der Elefantentreiber.
"Sind diese barbarischen Sitten der Inder noch immer nicht durch die Engländer ausgerottet worden?", Phileas Foggs Stimme verriet nicht die leiseste Erregung.
"In den meisten Gebieten schon", sagte Sir Francis. "Aber in den wilden Gegenden, wie hier in Bundelkhand, stehen Raub und Mord an der Tagesordnung."
"Wie furchtbar! Bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden!", murmelte Passepartout.
"Das ist furchtbar", bestätigte der General, "aber wenn sie sich weigert, wird sie von ihrer Familie verstoßen. Die Furcht vor diesem Schicksal, bringt viele dazu, freiwillig auf den Scheiterhaufen zu gehen."
Der Parse hatte mehrmals mit den Kopf geschüttelt. Nun kam er endlich zu Wort: "Die Witwe lässt sich gar nicht freiwillig verbrennen."
"Woher wissen Sie das?"
"Die Geschichte kennt doch jeder Einwohner von Bundelkhand", antwortete der Parse.
"Aber sie leistet gar keinen Widerstand", wandte Sir Francis Cromarty ein.
"Sie ist auch mit Hanf- und Opiumdämpfen betäubt worden."
"Und wohin wird sie nun gebracht?"
"Zur Pagode von Pillaji. Das sind zwei Meilen von hier. Dort muss sie die Stunden bis zu ihrer Verbrennung zubringen.
"Und wann soll das sein?"
"Morgen bei Tagesanbruch."
Der Treiber führte den Elefanten wieder aus seinem Versteck heraus und kletterte auf den Hals des Tieres. Gerade wollte er Kiuni mit einem Pfiff auf Trab bringen, da bat ihn Mr. Fogg, noch zu warten.
"Was meinen sie, könnten wir die Frau nicht retten?", fragte er den Brigadegeneral.
"Was wollen Sie? Die Frau retten? Mr. Fogg!", rief Sir Francis verblüfft.
"Ich habe immer noch zwölf Stunden Vorsprung, die könnte ich opfern."
"Sie an! Mister Fogg hat ein Herz!", sagte der General.
"Gelegentlich, vorausgesetzt, ich habe Zeit dazu", erwiderte Phileas Fogg bescheiden.