Das Vorhaben war kühn und nahezu nicht durchführbar. Mr. Fogg setzte sein Leben und das Gelingen seines Reiseplanes aufs Spiel. Sir Francis Cromarty war bereit, ihm zur Seite zu stehen und auch Passepartout wollte mit von der Partie sein. Er war ganz hingerissen von dem Wagemut seines Herrn. Phileas Fogg wurde ihm immer lieber.
Sir Francis wandte sich an den Elefantentreiber um herauszufinden, was er darüber dachte.
"Herr General", antwortete der junge Mann, "ich bin Parse, wie die junge Frau. Verfügen Sie über mich."
"Gut, wir werden mit der Rettung beginnen, wenn es dunkel ist", sagte Mr. Fogg.
Während die Reisegesellschaft es sich im Dickicht so bequem wie möglich machte, begann der Mahaut zu erzählen, was er über die arme Witwe wusste.
Sie war eine wunderschöne Parsin, Tochter eines Kaufmanns aus Bombay, die eine vollkommen englische Erziehung genossen hatte. Ihr Name war Aouda. Sie war Waise und wurde gegen ihren Willen mit dem alten Radschah aus Bundelkhand vermählt. Als dieser drei Monate nach der Hochzeit starb, floh sie, weil sie wusste welches Schicksal sie erwartete. Als sie wieder eingefangen wurde, beschloss die Familie den Opfertod.
Durch die Erzählung noch mehr bestärkt, machten sich die Retter auf zur Pagode von Pillaji. In sicherer Entfernung suchten sie Schutz und berieten, was zu tun wäre.
Der Parse war fest davon überzeugt, dass die junge Frau im Innern der Pagode festgehalten wurde. Vielleicht sollte man abwarten, bis die tobende Menge einschlief. Immerhin waren sie aufgrund einer Mischung aus flüssigem Opium und Hanf schwer berauscht. Oder war es besser ein Loch in die Mauer zu brechen?
Als es dämmerte, machten sich die Herren auf den Weg. Sie schlichen an einem Flüsschen entlang, von dessen Ufer sie den Scheiterhaufen erkennen konnten. Sandelholzscheite waren aufeinander gestapelt und obendrauf ruhte der einbalsamierte Leichnam des Radschahs.
Sie näherten sich der Pagode und mussten zu ihrer Enttäuschung erkennen, dass Wächter mit blanken Dolchen vor den Toren auf- und abmarschierten. Von dieser Seite war der Durchgang unmöglich.
Sir Francis schlug vor zu warten: "Es ist er 8 Uhr. Vielleicht schlafen die Wächter noch ein."
Phileas Fogg und seine Gefährten streckten sich also neben einem Baum ins Gras und warteten unendlich lange Stunden.
Um Mitternacht war die Lage immer noch unverändert. Jetzt blieb nur noch eine Möglichkeit ins Innere der Pagode zu gelangen: Die Mauer musste durchbrochen werden. Allerdings war auch damit nicht viel erreicht; denn die Priester bewachten ihr Opfer sicher ebenso gut, wie die Wächter.
Es war halb 1 Uhr, als sie mit gezückten Messern vor der Rückseite der Tempelmauer standen. Die Wand war nicht besonders stabil. Wenn der erste Stein gelöst wäre, konnte man die weiteren ohne Probleme herausnehmen.
Sie machten sich so leise wie möglich an die Arbeit. Es ging gut voran, als aus dem Inneren plötzlich ein Schrei drang. Ohne weiter nachzudenken ergriffen alle vier die Flucht. Als sie im Schutz einer Baumgruppe anhielten, berieten sie.
"Wir müssen fort von hier", flüsterte der Parse.
"Vielleicht haben wir im letzten Augenblick noch eine Chance. Ich muss erst morgen kurz vor 12 Uhr in Allahabad sein. Warten wir ab", erwiderte Mr. Fogg mit ruhiger Stimme.
Passepartout fand keine Ruhe. Er saß in den unteren Ästen eines Baumes und heckte einen Schlachtplan aus. Der Einfall war ihm blitzartig gekommen, wurde aber immer mehr zur fixen Idee. Mit der Geschmeidigkeit einer Schlange glitt er über die Äste zurück auf den Erdboden.
Die Stunden vergingen schleichend. Wie von Zauberhand geweckt, richtete sich das Volk mit dem ersten Sonnenstrahl auf. Die Trommeln dröhnten und die Gesänge und das Geschrei wurden lauter.
Die Tore öffneten sich und unsere Reisenden konnte die junge Frau zwischen zwei Priestern erkennen. Offenbar versuchte sich die Parsin zu wehren. Doch betäubende Rauchschwaden ließen sie teilnahmslos in die Arme der Priester zurücksinken.
Phileas Fogg und seine Begleiter bildeten die Nachhut des Zuges. Sie sahen, dass die junge Frau völlig reglos neben dem Leichnam ihres Gatten lag. Eine brennende Fackel wurde gebracht, und sofort stand das ölgetränkte Holz lichterloh in Flammen.
Mr. Fogg, Sir Francis und der Mahaut standen hilflos da. Phileas Fogg wollte sich gerade auf den Scheiterhaufen stürzen, da veränderte sich die Szene. Die Zuschauer brachen in Angstschreie aus. Sie warfen sich bäuchlings auf den Boden - Angst schüttelte sie.
Der Radschah war nicht tot! Wie ein Geist richtete er sich auf, hob die junge Frau auf die Arme und kletterte vom Scheiterhaufen. Um ihn herum stiegen Rauchschwaden auf und ließen seine Gestalt noch überirdischer aussehen.
Fakire, Wächter, Priester, das ganze Volk lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Nicht einer wagte, den Blick zu heben und das Wunder mit den Augen zu schauen.
Sir Francis Cromarty und Phileas Fogg waren aufrecht stehen geblieben, während der Parse den Kopf gesenkt hatte. Und Passepartout?
Der auferstandene Radschah stand plötzlich zwischen den beiden Engländern und zischelte: "Fort von hier!"
Es war Passepartout! Der Franzose hatte sich im Schutz der Rauchschwaden an den Scheiterhaufen herangeschlichen und die junge Frau dem Tode entrissen. Passepartout war ein Held! Und er hatte Glück gehabt, dass im ersten Moment niemand hinter den Schwindel gekommen war.
Die vier Männer eilten in den Wald. Wenig später trug sie der Elefant in eiligen Trab davon. Die Inder, die den Betrug entdeckt hatten, schickten ihnen Gewehrsalven hinterher, aber es war zu spät. Die Kugeln und Pfeile der Verfolger konnten die Fliehenden nicht mehr erreichen.