Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung "Typisch Helene". Heute ist der 27. Januar, und wenn ich heute auf die letzten Wochen zurückblicke, muss ich schon sagen: Kaum hat das Jahr begonnen, geht es wieder drunter und drüber [1]. Hier in der Schweiz hat vor allem die Affäre um Philipp Hildebrand, den ehemaligen Chef der Nationalbank hohe Wellen geworfen [2]. Die Wellen waren so hoch, dass sie sich bis heute nicht beruhigt haben. Ich denke, dass uns diese Affäre, in die auch Politiker und eine Zeitung verwickelt waren, noch ziemlich lange beschäftigen wird. Wir aber konzentrieren uns heute auf gemütlichere Dinge. Zuerst erzähle ich Ihnen nämlich von meinem Besuch in einem Provinztheater. Danach diskutieren wir über die verschiedenen Ladenöffnungszeiten in der Schweiz, und zum Schluss reden wir noch kurz über das kleine aber unglaublich wichtige Wörtchen "eigentlich". Schön, sind Sie heute wieder mit dabei!
Bevor wir jedoch in unser erstes Thema eintauchen, liebe Zuhörer, müssen wir unbedingt den Begriff "Provinz" definieren. Zur Provinz gehören grundsätzlich alle Orte, die sich ausserhalb der grossen Städte befinden. Und weil die Schweiz nun verhältnismässig klein ist, und in dieser kleinen Welt Zürich als die Wirtschafts-, Medien- und Unterhaltungsmetropole gilt, betrachten Zürcher alles, was ausserhalb von Zürich stattfindet, als provinziell. Natürlich, das muss ich hier sofort betonen, werden Luzerner, St. Galler, Basler oder Berner nicht gerne als Provinz angesehen. Aber es ist halt nun einmal so, dass die Zürcher Oper, das Zürcher Ballett, das Zürcher Schauspielhaus und die Tonhalle weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt sind. Auch wenn Basel ein grossartiges Musicaltheater und Luzern die Internationalen Musikfestwochen hat, so ist und bleibt Zürich auch die Kulturhauptstadt der Schweiz. Leider, leider, leider ist das kulturelle Angebot in Zürich jedoch so gross, dass man es gar nicht wirklich nutzen kann. Ich, zum Beispiel, liebe Theater und Oper über alles, aber ich sehe mir nur selten eine Vorstellung an. Irgendwie bin ich einfach zu faul, um alle Programme zu studieren und mich um Billette zu kümmern, und darüber ärgere ich mich sehr.
Ich habe mir nun also für dieses Jahr vorgenommen, viel öfters ins Theater zu gehen. Und - ich habe meinen Vorsatz [3] schon einmal umgesetzt [4]: Aber nicht in Zürich, sondern in der Provinz; in meiner Heimatstadt Luzern. Und zwar ging ich seit langem wieder einmal ins Luzerner Theater. Das Luzerner Theater ist ein hübsches, kleines Haus mit Platz für 555 Zuschauer. Es liegt zwischen der Jesuitenkirche und der Kapellbrücke direkt an der Reuss, dem Fluss, der Luzern in die Alt- und Neustadtseite teilt und ist mit seinen 172 Jahren das älteste Mehrspartentheater der Schweiz. Das heisst, auf seiner Bühne werden verschiedene Genres aufgeführt, Schauspiel, Oper, Musical, Ballett, Figurentheater - und Operette. Und aus diesem ganzen Programm haben meine Mutter, meine Schwester und ich eine Operette ausgesucht: Wir haben uns "Im Weissen Rössl" angesehen, ein lustiges Stück mit ganz vielen Verliebten und Eifersüchtigen und selbstverständlich mit einem Happy End. Nein, nein, nein, schreien Sie jetzt nicht! Ich weiss: Für viele sind Operetten so altmodisch wie Pantoffeln oder Verlobungsfeiern. Wenn ich das Wort "Operette" nur schon ausspreche, verdrehen die meisten meiner Freunde die Augen, raufen sich die Haare [5] und rümpfen die Nase. Ich aber mag Operetten. Ja, ich finde sie sogar wunderbar. Und seit ein Freund, der Opernsänger ist, mir einmal erklärt hat, dass es eine hohe Kunst ist, Operetten zu singen, gerade weil die Handlung und die Melodien oft so kitschig sind, sehe ich dieses Genre mit neuen Augen.
Und wissen Sie was? Egal, was man nun von Operetten hält: Die Vorstellung in Luzern war grossartig! Selten habe ich mich im Theater so amüsiert, habe ich mich so wenig gelangweilt. Die Operette war witzig und frech inszeniert, sie war frei von Kitsch, und wir merkten, wie sehr auch die Sänger, Schauspieler, Musiker und Tänzer Spass daran hatten. Ich war total begeistert, und ich habe mir fest vorgenommen, sehr bald wieder ins Luzerner Theater zu gehen. Oder vielleicht sogar einmal ein Theater in St. Gallen oder Bern auszuprobieren. Denn mir ist wieder einmal bewusst geworden, wie gut es tut, ab und zu mal, die heimatlichen Grenzen zu überschreiten.
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Nach diesem kleinen Ausflug in die Theaterwelt der Innerschweiz, kommen wir nun zu unserem zweiten Thema: zum Theater um die Ladenöffnungszeiten. Wenn Sie hierzulande öfters mal von Stadt zu Stadt reisen, liebe Zuhörer, dann ist Ihnen sicher schon aufgefallen, dass die Läden zu unterschiedlichen Zeiten schliessen. In den einen Städten schliessen die Geschäfte während der Woche abends um halb sieben, in den anderen um acht Uhr. Besonders krass [6] ist die Situation aber am Samstag. In Basel zum Beispiel, machen die grossen Geschäfte wie Manor und Globus um 18 Uhr zu, in Zürich um 20 Uhr und in Bern und Luzern um 16 Uhr. Nun könnte man natürlich gelassen [7] sagen: "Ja, und? Wo ist jetzt genau das Problem? Ist doch egal, wann die Läden zumachen. Da muss man sich halt einfach danach richten. Und überhaupt: Jeder Kanton in der Schweiz hat das Recht, selbst zu entscheiden, wann die Läden schliessen sollen. Das ist ja letztendlich auch der Sinn unseres föderalistischen Systems!" Stimmt, alles richtig, absolut korrekt. Nur, ich als Konsumentin, die oft zwischen den Städten pendelt [8], sehe das ein bisschen anders. Ich will einkaufen gehen, wenn ich Zeit dafür habe. Und da bin ich froh, wenn ich auch am Samstag noch um sieben Uhr abends gemütlich shoppen gehen kann. Lassen Sie mich ein Beispiel geben - und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich mich jetzt schon wieder auf Luzern konzentriere. Aber Luzern ist halt - nebst Zürich - meine Heimatstadt, da kenne ich mich am besten aus. Also, wenn ich am Samstag nach Luzern fahre, komme ich meistens so gegen 12 oder 13 Uhr dort an. Dann lade ich als erstes mein Gepäck irgendwo ab und treffe mich mit meiner Familie oder mit Freunden zum Lunch. Ich will ja nicht mit knurrendem Magen in die Stadt gehen. Das macht keinen Spass. Wir geniessen also das Essen und trinken danach noch gemütlich einen Kaffee, schliesslich ist es Wochenende, da will man sich nicht unnötig beeilen. Deshalb ist es auch schon etwa 14 Uhr 30, wenn wir endlich die Rechnung bestellen. Ja, und nun haben wir Lust, durch die Gassen zu flanieren [9] und zu schauen, was es in den Läden so Neues gibt - und Lebensmittel einkaufen, das müssen wir auch noch.
Uff, aber plötzlich ist es schon drei Uhr. Nur noch eine Stunde Zeit! Jetzt beginnt der Stress. Das Flanieren ist vorbei. Wir rasen von Laden zu Laden, blicken kurz rein, sind aber zu gestresst, um noch irgendetwas genauer anzusehen oder gar zu probieren. Die Zeit läuft. Noch 30 Minuten. Schnell in den Manor Handcrème und Shampoo kaufen. Noch 15 Minuten. Ach, ich hätte mir doch so gerne ein neues Fondue-Set anschauen wollen. Wir eilen in den Globus, wo sind denn nun bloss die Fondue-Sets? Mist! Wir sehen sie nicht auf den ersten Blick. Noch fünf Minuten. Frustriert fahren wir die Rolltreppen wieder hinunter. Wir wollen ja nicht im Globus eingeschlossen werden. Noch eine Minute. Es ist 16 Uhr. Die Läden sind zu. Fertig, Schluss, aus. Oh, nein! Nun haben wir die Lebensmittel total vergessen. Zum Glück sind die Geschäfte im Bahnhof noch offen. Aber da ist das Einkaufen kein Genuss, weil immer viel zu viele Leute zur gleichen Zeit in den Läden sind. Was bleibt, ist der Frust. Schon wieder haben wir einen Samstagnachmittag verpasst. Verpasst, weil er nicht so gemütlich wurde, wie wir gehofft hatten. Nach solchen Samstagen gelobe ich mir jedes Mal: Den nächsten Samstagnachmittag verbringe ich wieder einmal in Zürich. Da habe ich wenigstens bis um 20 Uhr Zeit.
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Und jetzt zum Schluss noch Folgendes. Haben Sie sich schon einmal darauf geachtet, wann und wie oft Sie eigentlich das Wörtchen "eigentlich" benutzen? Ich frage Sie das, weil ich mich in letzter Zeit vermehrt auf dieses Wort konzentriere. Denn mir ist aufgefallen, dass ich "eigentlich" sehr viel gebrauche, ohne gross darüber nachzudenken, was "eigentlich" eigentlich aussagt. Also, wenn ich zum Beispiel sage: "Mir hat der Abend eigentlich sehr gut gefallen...", oder: "Das Essen schmeckt mir eigentlich ganz gut....", oder: "Eigentlich finde ich dieses Buch toll....". Dann brauche ich "eigentlich" ja nur, um auszudrücken, dass mir etwas nicht so gefallen hat. Nehmen wir noch einmal den ersten Satz: "Mir hat der Abend eigentlich sehr gut gefallen...". Jetzt kommt das "Aber": "... aber mich hat gestört, dass so viele Gäste geraucht haben." Oder noch schlimmer: "Mir hat der Abend eigentlich sehr gut gefallen, aber mich hat gestört, dass so viele Gäste geraucht haben, dass es so eng war, die Musik so laut war und ich zum Schluss erst noch das letzte Tram verpasst habe." Also, eigentlich war der Abend ziemlich schrecklich. Insofern beinhaltet "eigentlich" die indirekte Aufforderung, zu sagen, wie etwas wirklich war, oder was man wirklich denkt. Das ist mir übrigens vor kurzem sehr klar geworden, als ich folgenden Satz hörte: "Eigentlich finde ich dich wunderbar..., aber ich verstehe dich einfach nicht." Ja, und seither bin ich auf das Wörtchen "eigentlich" richtig allergisch. Seither frage ich bei jedem "eigentlich", das mir zu Ohren kommt [10]: "Und uneigentlich? Was meinst du nun wirklich?"
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[1] drunter und drüber gehen: chaotisch sein
[2] Wellen werfen: Aufregung verursachen
[3] der Vorsatz: das, was man sich vorgenommen hat
[4] umsetzen: realisieren, verwirklichen
[5] sich die Haare raufen: sich mit den Händen heftig durch die Haare fahren
[6] krass: extrem
[7] gelassen: ruhig
[8] pendeln: hin- und herfahren
[9] flanieren: genüsslich spazieren
[10] zu Ohren kommen: hören, erfahren