Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, guten Tag und herzlich willkommen zur Sendung "Typisch Helene". Heute ist der 9. Dezember, und es ist die letzte Sendung in diesem Jahr. Übrigens, ich habe Ihnen ja in der letzten Sendung angekündigt [1], dass wir heute unter anderem über die Hochs und Tiefs an Weihnachtsessen mit der Firma reden. Kaum hatte ich das aber ausgesprochen, habe ich realisiert, dass ich Ihnen ja schon letztes Jahr davon erzählt habe. Lassen wir also die Weihnachtsessen weg. Dafür lade ich Sie nun zu einem ganz persönlichen Jahresrückblick ein: Ich erzähle Ihnen, was mich in diesem Jahr besonders bewegt hat. Danach verrate ich Ihnen, was mich in diesem Jahr bekümmert [2] hat, und zum Schluss berichte ich Ihnen von der Begegnung mit einer Frau, die vor kurzem ihren 50. Geburtstag gefeiert hat - und mir ein wunderschönes Motto [3] für das nächste Jahr mit auf den Weg gegeben hat. Und das möchte ich nun auch Ihnen weitergeben.
Was ist das für ein Jahr gewesen, liebe Zuhörer! Wenn ich auf die vergangenen Monate zurückblicke, habe ich das Gefühl, als hätte ich ständig atemlos alle neuen Meldungen verfolgt, im Fernsehen, im Internet, in den Zeitungen und natürlich auf dem iPhone. Erst kamen die Proteste und die Revolutionen in der arabischen Welt, dann der Tsunami und die Atomkatastrophe in Fukushima, dann die Dramen um Griechenland, der starke Franken und die Finanzkrise in Europa, dann noch die Parlamentswahlen in der Schweiz und der beginnende Wahlkampf in den USA. Uff, kann man da nur sagen. Wie wird das bloss alles weitergehen? Als Journalistin war und ist das für mich natürlich sehr interessant und aufregend, besonders deswegen, weil ich mich ja intensiv mit dem Nahen Osten beschäftige. Ich war in diesem Jahr zweimal in Kairo, einmal im April und einmal im Juni. Ich habe Ihnen davon erzählt. Für mich war es eindrücklich, hinter die Zeilen der Zeitungsmeldungen zu sehen, nach Ägypten zu reisen und mitten auf dem Tahrir-Platz zu stehen, obwohl mich meine Freunde und Familie davor gewarnt hatten.
Denn wenn man vor Ort ist, sieht die Lage meistens ganz anders aus, als wenn man nur darüber liest. Ich bin oft um Mitternacht mit meinem Fotografen auf dem Platz gesessen, habe geröstete Maiskolben gegessen und mit den Menschen diskutiert, denen wir dort begegnet sind. Ich habe auf diese Weise viele neue Freunde gewonnen, nun bin ich mit ihnen über Facebook in Kontakt, und sie erzählen mir von ihrem Leben und informieren mich darüber, was in Ägypten läuft. Das ist für mich sehr wertvoll.
Auf dem Tahrir-Platz hatte ich übrigens noch ein ganz anderes schönes Erlebnis: Ich war gerade dabei, die Strasse zu überqueren, da hörte ich, wie mein iPhone piepste: Ich hatte eine neue Meldung bekommen. Da ich ein neugieriger Mensch bin, konnte ich nicht warten, bis ich auf der anderen Strassenseite war, sondern zog das Handy aus der Tasche: Meine Schwester hatte mir ein Foto von Mia geschickt, meiner Nichte. Es zeigte, wie das damals gut sechs Monate alte Mädchen auf dem Boden sitzt, die Hände zwischen ihren Beinchen aufgestützt, und triumphierend lächelte. Unter dem Foto stand: "Hallo, Tante Gotte [4] Helene, sieh mal, ich kann sitzen!" Ich stand da und war zu Tränen gerührt. Ich vergass völlig, wo ich war, starrte nur auf das Bild, und in diesem Moment formte sich in meinem Kopf eine Strophe [5] für ein Gedicht, das ich für Mia schreiben wollte. Die Strophe schrieb ich sofort auf. Sie lautete: "Als ich Dich zum ersten Male sitzen sah, stand ich mitten auf dem Tahrir Square in Kairo, und es war, als widerspiegelte [6] Dein Blick auf dem Bild jenen der jungen Menschen, denen ich eben begegnet war: keck [7], triumphierend, hoffnungsvoll. Und ich spürte eine Zuversicht [8] ohne Zweifel." Zu dieser Strophe kamen im Verlauf der darauf folgenden Wochen natürlich noch einige dazu. Einen Monat später las ich dann das fertige Gedicht an Mias Taufe in der Kirche vor. Und noch etwas durfte ich an der Taufe vorlesen, etwas, worauf Mia eines Tages hoffentlich stolz sein wird. Abdo, mein Freund aus dem Jemen, hatte mir via SMS ebenfalls ein kleines Gedicht geschickt. Er fühlt sich nämlich fast ein bisschen wie Mias Onkel und fragt immer erst nach ihr, bevor er von sich und seiner Familie erzählt. Er hat die Zeilen auf Englisch geschrieben, und so las ich sie auch auf Englisch vor und sagte natürlich, dass sie von Mias jemenitischem Onkel sind. Als die Taufe vorbei war, kamen viele Verwandte und Freunde aufgeregt auf mich zu und fragten mich: "Du! Wir wussten gar nicht, dass ihr einen Onkel im Jemen habt! Warum habt ihr uns das jahrelang verschwiegen [9]?"
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Wie Sie sehen, bin ich schon ein bisschen monothematisch, nicht wahr? Ich beschäftige mich mit Ägypten, dem Jemen, dem Baby, mit Schweden, davon habe ich Ihnen zwar noch nicht viel erzählt, aber das werde ich in einer der nächsten Sendungen tun, und ich beschäftige mich natürlich mit meinem Leben auf der Redaktion. Und in meinem Redaktionsleben ist in den vergangenen Monaten etwas Trauriges passiert. Also, so traurig ist es natürlich auch wieder nicht, ich übertreibe masslos [10]. Aber es war für mich doch ein tiefer Einschnitt in meinem Arbeitsalltag: Denn mein Lieblingskollege hat gekündigt [11]. Ich habe Ihnen sicher schon von Stefan, meinem Büroehemann, erzählt. Ja, Büroehemann. Er hat immer gesagt, dass er zwei Ehefrauen hat: Eine zuhause und eine im Büro. Keine Sorge, es ist alles ganz brav und sauber, ich kenne Stefans Frau gut, und immer, wenn wir uns sehen, lachen wir über unseren gemeinsamen Ehefrauen-Status. Stefan und ich waren uns aber so nahe, dass wir einander alles erzählt haben. Er hat mir jeweils sein Herz ausgeschüttet [12], ich ihm meines. Wenn wir einen Text schreiben mussten und Blockaden hatten, gingen wir in die Kantine einen Kaffee holen und sind einmal um das Gebäude herumspaziert. Auf diesem Spaziergang haben wir dann über unsere Texte diskutiert und darüber, wie schwierig das Schreiben manchmal sein kann. Wir haben seinen Heiratsantrag besprochen und meinen Liebeskummer. Als er Probleme hatte mit seinem Bruder, hat er sich mir anvertraut, ebenso, als er im letzten Frühling plötzlich das Angebot bekam, Chefredaktor einer Natur-Zeitschrift zu werden. Und als er die Stelle dann tatsächlich erhielt, war ich die erste, die es erfuhr. Ich habe mich extrem für ihn gefreut, denn von so einem Job hatte Stefan schon lange geträumt. Aber als er die Redaktion verliess, hatte ich das Gefühl, dass er irgendwie auch mich verliess. Die ersten Tage danach waren kalt und leer, und ich kam mir sehr einsam vor. Ehrlich gesagt, ich habe schon ein bisschen getrauert. Aber so ist das im Leben: Die einen kommen, die anderen gehen. Jetzt habe ich einen sehr netten neuen Kollegen. Und mit Stefan treffe ich mich natürlich immer noch, und dann ist es so wie eh und jeh. Wir sind jetzt zwar getrennt, aber immer noch zusammen. Und das ist auch sehr schön!
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Und jetzt zum Schluss noch dies, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: Ich war kürzlich an einer Geburtstagsparty in Basel. Jasmina, eine gute Freundin von mir, hatte mich gefragt, ob ich sie begleiten wolle, und da ich es liebe, immer wieder neuen Menschen zu begegnen und dabei natürlich auch in neue Häuser und Wohnungen hineinzusehen, sagte ich sofort Ja. An jenem Abend feierte Jasminas Freundin Monika ihren fünfzigsten Geburtstag. Ich hatte Monika früher schon einmal gesehen, kannte sie aber nicht näher. Als ich Monika nun wiedersah, war ich hin und weg [13]: Sie sah umwerfend aus! Gross und kräftig, aber wohlgeformt, sie hat wunderschöne, wilde graue lockige Haare, rosa Wangen, leuchtende Augen und ein fast faltenfreies Gesicht. "Wow, was für eine Frau!", dachte ich. Später, als wir auf ihren Geburtstag anstiessen, setzte ich mich zu ihr und fragte: "Monika, du siehst einfach atemberaubend schön aus! Sag mir, was ist dein Geheimnis? Was ist deine Diät? Welches deine Hautcrème?" Monika bedankte sich für das Kompliment und schmunzelte: "Ach, meine Liebe", sagte sie. "Ich brauche seit Jahren dieselbe billige Crème und ich hasse Diäten." Dann stand sie auf, hob ihr Glas und zwinkerte [14] mir zu: "Dafür nehme ich immer von allem viel! Das ist mein Lebensmotto." Wir haben dann nicht genauer definiert, was sie mit "allem" meinte. Aber das ist ja auch unwichtig. Monika hat mich tief beeindruckt. Und ich werde mir ihr Motto sofort auch zu meinem Lebensmotto machen. "Von allem viel". Das hört sich wunderbar an! Vielleicht, liebe Zuhörer, wird es nun auch Ihres.
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[1] ankündigen: sagen, was kommen wird
[2] bekümmern: traurig machen
[3] das Motto: Devise, Leitspruch
[4] die Gotte: schweizerdeutsches Wort für Patentante
[5] die Strophe: Abschnitt eines Gedichts
[6] widerspiegeln: wiedergeben, zeigen
[7] keck: munter
[8] die Zuversicht: Optimismus
[9] verschweigen: nicht erzählen
[10] masslos: sehr viel, extrem
[11] kündigen: die Arbeit verlassen
[12] das Herz ausschütten: über Probleme reden
[13] hin und weg sein: begeistert sein
[14] zwinkern: mit dem Auge ein Zeichen machen