Eine Schildkröte und ein Skorpion hielten Freundschaft miteinander. Immer sprachen sie in Liebe und Eintracht, Aufrichtigkeit und Anhänglichkeit. Einst mußten sie notgedrungen ihre Heimat verlassen. Sie wanderten in Kameradschaft und Einmütigkeit an einen anderen sicheren Platz. Durch Gottes Fügung kam ihr Weg an einen großen Fluß, und sie planten ihn zu durchschreiten. Der Skorpion hatte Besorgnis, den Fluß zu überschreiten und war in Verlegenheit. Die Schildkröte sagte: „Lieber Freund, was ist die Veranlassung, daß du das Schiff des Nachdenkens auf den Fluß der Verlegenheit gesetzt hast, und was ist der Grund, daß du in das Meer der Sorge und des Kummers untergesunken bist?“ Der Skorpion erwiderte: „Bruder, der Gedanke, diesen Fluß zu überschreiten, hat mich in den Strudel der Aufregung geworfen. Es ist mir unmöglich, den Fluß zu überschreiten, noch kann ich die Glut des Feuers der Trennung (von dir) aushalten.“ Die Schildkröte sagte: „Sei nicht traurig, ich werde dich ohne weitere Unbequemlichkeiten auf meinem Rücken über dies Wasser bringen, meine Brust zum Ziele für den Pfeil deines Kummers machen und dich so aus dem Strudel ans Ufer bringen, denn man sagt: ‚Es ist schade, einen Freund, den man mit Mühe gewonnen hat, durch Leichtsinn zu verlieren.‘“ Die Schildkröte nahm den Skorpion auf ihren Rücken, ließ sich wie ein Schiff ins Wasser und machte sich auf den Weg. Während sie im Wasser schwamm, kam plötzlich ein unangenehmes Geräusch ihr zu Ohren, und sie merkte ein Kratzen und Picken auf ihrem Rücken durch die Bewegung des Skorpions. Sie fragte: „Bruder, was ist das für ein Geräusch, das ich höre, und womit beschäftigst du [265]dich?“ Der Skorpion antwortete: „Bruder, ich erprobe die Spitze meines Stachels an der Rüstung deines Körpers.“ Die Schildkröte sagte voller Zorn: „Wie unfreundlich von dir. Ich habe mich deinetwegen dem Strudel entgegengestellt und mein liebes Leben und meinen schwachen Körper der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt. Während ich jetzt die Arbeit habe, sitzt du dort in Ruhe und überschreitest auf meinem Körper wie in einem Schiffe das Wasser. Wenn du dich nicht zu Dank verpflichtet fühlst und unsere alte Freundschaft so gering achtest, was soll denn dies Stechen, zumal doch klar ist, daß du mir damit keinen Schaden zufügst und dein Stachel durch meine dicke Haut nicht durchdringt.“ Der Skorpion antwortete: „Gott soll mich bewahren, daß mir derartige Gedanken je in meinem Leben gekommen sind. Diese Bewegung liegt nur in meiner Natur. Ich muß stechen und da ist es mir einerlei, ob es der Rücken des Freundes oder die Brust des Feindes ist.“ Die Schildkröte wunderte sich darüber, versank in Nachdenken und sagte zu sich: „Die Weisen haben mit Recht gesagt, daß Edelmut einem gemeinen und schlechten Menschen gegenüber dasselbe sei wie Disteln in der Schleppe und Schlangen im Kragen zu hegen.“