In der Umgegend von Bagdad war eine Wiese, deren Erde wie Ambra duftete und deren sanfte Lüfte den Geist erquickten wie die klare Luft des Keyserbrunnens im Paradiese. Vom Reflex der Lichter und Blumen war das Firmament geblendet, die Zahl seiner Brunnen und Flüsse war ohne Ende, und auf jedem Zweige im Garten leuchteten tausend Sterne, über deren Anblick der Himmel schwindelig wurde.
Auf dieser Wiese hatten sich viele wilde Tiere wegen ihrer lieblichen Luft und ihres Reichtums an Wasser und Nahrung niedergelassen.
Hier lebte ein blutgieriger Löwe, der immer seinen unheilvollen Anblick diesen Armen zeigte und ihnen das Leben verbitterte. Jeden Tag erbeutete er sich ein paar von ihnen. Eines Tages kamen sie überein und gingen zu dem Löwen und sagten in aller Demut und Unterwürfigkeit: „Wir sind die Diener des Königs der Tiere. Wir sind jeden Tag in Aufregung, ob du wohl einen von uns erbeutest oder nicht, und du bist auch durch die Verfolgung belästigt. Wir sind also aus Rücksicht auf deine Bequemlichkeit und auf unsere Ruhe und Sicherheit auf den Gedanken gekommen, dir, wenn du uns weiter nicht verfolgst, jeden Tag zur Mahlzeit in deine Küche eine Beute zu schicken. Wir werden diese Verpflichtung gewissenhaft ausführen.“ Der Löwe war damit einverstanden.
Sie kamen also überein, daß jeden Tag das Los geworfen werde und daß der, den es träfe, in die Küche des Löwen geschickt werde. So verging einige Zeit. Eines Tages fiel das Los auf den Hasen. Dieser sagte nach einigem Nachdenken: „Wenn ihr mit meiner Absendung etwas warten wollt, so denke ich, daß ich wahrscheinlich euch alle von der gewaltigen Faust dieses Tyrannen befreien kann.“ Die Tiere waren alle damit einverstanden. Der Hase wartete so lange, bis die Stunde des Frühstücks vorüber war. Der Zorn des Löwen wurde durch den Hunger aufs äußerste [263]erregt, bald stand er auf, bald setzte er sich hin und schlug die Zähne aufeinander. Sein Gebrüll drang bis zum Himmel. Da näherte sich der Hase leise dem Löwen. Dieser war sehr aufgeregt, schlug vor Zorn den Boden mit seinem Schweife und wollte den Vertrag lösen.
Der Hase kam leise näher und grüßte mit aller Unterwürfigkeit. Der Löwe sagte: „Woher kommst du und was weißt du von den Tieren?“ Der Hase erwiderte: „Nach unserm alten Vertrage schickten sie mit mir einen Hasen in die königliche Küche. Während ich mit ihm unterwegs war, kam zufällig in dem und dem Walde ein wilder Löwe uns entgegen und nahm ihn mir aus der Hand. Wie sehr ich auch rief: ‚Dieser Hase ist die Nahrung des Königs der Tiere‘, er hörte gar nicht zu und kümmerte sich nicht um mich. Er gebrauchte Schimpfworte gegen mich und sagte: ‚Weißt du nicht, daß dieser Wald mein Jagdplatz ist und die Beute nur mir zukommt?‘ Er gebrauchte solche Worte und schmähte auch den König, daß ich erschreckt war. Schließlich lief ich weg und kam in Eile hierher, damit ich den Fall deiner hohen Einsicht unterbreite.“