Zur Zeit der Kinder Israel lebte ein frommer Asket, der sehr arm war. Dieser ging, um sich einen Unterhalt zu verschaffen, von Zeit zu Zeit aus, erbettelte sich um Gottes willen ein paar Pfennig und lebte den Tag davon. Wieder war er eines Tages nach alter Gewohnheit in der Stadt von Tor zu Tor gegangen, als plötzlich jemand zu ihm trat und ihn anredete: „Willst du lieber ein rechtlich erworbenes Goldstück oder zehn unrechtlich erworbene?“ Der Asket erwiderte: „Unrechtlich erworbene Dinge nehme ich überhaupt nicht an, selbst wenn es tausend Goldstücke wären, aber ein rechtlich erworbenes Goldstück genügt mir.“ Der andere gab ihm ein [244]Goldstück in die Hand, das der Asket annahm, indem er Gottes Segen wünschte.
Als er danach in der Stadt umherging, sah er bei einem Manne einen wunderbar schönen Vogel. Kaum hatte er ihn gesehen, als er eine Liebe zu dem Vogel faßte und nach dem Preise und der Art des Vogels fragte. Der Besitzer forderte ein Goldstück und sagte, daß er der Vogel Heftreng (sieben Farben) heiße. Sofort gab er sein Goldstück, das er soeben erhalten, und kaufte sich den Vogel Heftreng. Als er nach Hause kam, ging seine Frau in der Hoffnung, Geld von ihm zu erhalten, ihm entgegen. Sie sah, daß er kein Geld, wohl aber einen Vogel brachte. Da die Frau sehr hungrig war, der Asket aber ohne Geld mit leeren Taschen kam, so war sie sehr aufgeregt und fing an ihn zu schelten: „Während wir schon nichts zu essen haben, bringst du jetzt noch einen, der Nahrung verlangt, und noch dazu einen unschuldigen Vogel, den du einsperrst, und für dessen Unterhalt zu sorgen du verpflichtet bist. Was ist das wieder für ein neues Unglück, das über uns gekommen ist.“ Sie machte einen großen Lärm, aber da die Frau sehr schön war, so ertrug der Asket alles, was sie auch tat. Er setzte also den Vogel Heftreng in einen Käfig und hängte diesen an die Wand.
Gegen Abend fing der Vogel an, im Käfig sich zu schütteln. Der Asket ging hin und sah, daß, während er sich schüttelte, unter seinen Flügeln ein Edelstein herunterfiel. Der Asket nahm den Edelstein, brachte ihn auf den Bazar, empfing genau hundert Goldstücke dafür, als er ihn verkaufte, und besorgte alles, was für das Haus notwendig war. Er schloß den Vogel nicht im Käfig ein, sondern ließ ihn immer frei umherfliegen. Am Abend kehrte er dann zurück und brachte in seinem Schnabel jeden Tag einen Smaragden, den der Asket für ein Goldstück verkaufte. In kurzer Zeit sammelte er so ein großes Vermögen, daß er selbst nicht einmal wußte, wie groß es war. Da die Ankunft des Vogels von Segen war, so wurde die Frau [245]in der Nacht, da er in das Haus kam, schwanger, und als die Zeit kam, brachte sie einen Sohn zur Welt. Der Asket, der nun in jeder Beziehung froh war, nahm für ihn eine besondere Wärterin an und nannte ihn Ferid. Da er jetzt Geld genug hatte, beschloß er, um die Pflicht zu erfüllen, die Pilgerfahrt nach Mekka zu machen. Er rief seine Frau und sagte zu ihr: „Tugendhafte Frau, dieser Vogel Heftreng ist die Ursache der Ordnung unserer Verhältnisse geworden, und du weißt, daß ich auch nur durch ihn die Pilgerfahrt auszuführen in der Lage bin. Darum laß es an nichts in seiner Pflege fehlen, denn er ist wie unser Sohn der Grund zur Freude unseres betrübten Gemütes und die Frucht am Baum unseres Herzens geworden. Darum hüte ihn und laß es beileibe an nichts fehlen.“ Dann befahl er sie alle Gottes Schutz und machte sich auf den Weg.
Seine Frau langweilte sich aber bald, zu Hause zu sitzen. Sie ging daher eines Tages auf dem Markte spazieren, sah einen jungen Geldwechsler und verliebte sich in ihn, und bei dem Anblick seiner Schönheit verlor sie ihre Ruhe, ging jeden Tag vor dem Laden vorbei und schaute ihm ins Gesicht, um sich zu trösten. Wenn ihr die Mahnung ihres Mannes einfiel, wiederholte sie folgenden Vers:
Selbst Asketen, wenn sie sähen
Dieser Augen Schönheitsadel,
Würden meine Liebe ahnen,
Würden meiden Schmach und Tadel.
Als sie auf ihren Spaziergängen kein anderes Mittel, um die Glut des Feuers ihrer Liebe zu löschen, als das Wasser der Vereinigung mit dem jungen Geldwechsler fand, lud sie ihn in ihr Haus. Da die Frau sehr hübsch war, ging er mit tausend Freuden darauf ein, denn er war auch in sie verliebt. Die Liebe war nun auf beiden Seiten so stark, daß der junge Geldwechsler das Haus des Asketen wie sein eigenes jeden Tag besuchte.
Eines Tages erzählte ihm die Frau im Gespräch die Geschichte des Vogels und wie sie durch ihn so reich geworden [246]waren. Der Geldwechsler hatte aber einen sehr weisen, klugen Freund. Als er diesem einst die Geschichte des Vogels erzählte, sagte dieser: „Dieser Vogel bringt zwar schon lebendig so große Vorteile, wenn aber jemand seinen Kopf essen würde, so würde er Kaiser oder Vezir werden.“
Als der Wechsler dies hörte, war er fest entschlossen, den Kopf des Vogels zu essen. Er ging also nach alter Gewohnheit in das Haus des Asketen und sagte: „Brate mir diesen Vogel. Ich habe Verlangen danach.“ Die Frau antwortete: „Du meine Seele und mein Leben. Zwar ist der Vogel der Begründer unseres Wohlstandes in dieser Welt, aber da du ihn wünschst, so würde ich nicht nur ihn, sondern mein Leben opfern. Komm morgen. Ich werde dir dann einen ordentlichen Braten machen. Laß ihn dir schmecken.“
Am nächsten Morgen stand die Frau auf, schlachtete den Vogel, steckte ihn an einen Spieß und fing an, den Braten zu wenden. Ihr Sohn Ferid war immer mit dem Vogel zusammen und konnte auch nicht eine Stunde ohne ihn sein. Er war also sehr betrübt darüber, daß der Vogel geschlachtet war, und fing an zu weinen. Seine Mutter und die Wärterin suchten ihn zu beruhigen, aber vergeblich. Da sagte die Wärterin: „Herrin, gib ihm doch einen Bissen von dem Fleisch des Vogels. Er ist ja ein Kind. Dann wird sein Weinen aufhören.“ Die Frau konnte sich aber nicht entschließen, ihrem Sohne ein Stück zu geben, da dann für den jungen Wechsler zu wenig übrig bleiben würde. Als schließlich die Wärterin bat: „Wenn du ihm kein Fleisch geben willst, so gib ihm den Kopf, vielleicht hört sein Weinen dann auf. Den Kopf ißt man ja nicht.“
Da schnitt die Frau den Kopf des Vogels ab und gab ihn zwar sehr widerwillig ihrem Sohne. Als Ferid den Kopf gegessen hatte, hörte nach Gottes Ratschluß das Weinen auf.
Währenddessen war der Wechsler gekommen. Die Frau ging ihm entgegen, nötigte ihn höflichst sich zu setzen und sagte: „Du Grundstock meines Lebens, deinetwegen habe ich den Vogel, der ein unerschöpfliches Kapital war, geschlachtet [247]und gebraten.“ Indem sie so ihre Liebe zu ihm zum Ausdruck brachte, bereitete sie den Tisch, schmückte das Zimmer, legte den Vogel Heftreng auf eine Schüssel und setzte ihn vor. Der Wechsler aß nicht von dem Fleisch, sondern suchte nach dem Kopfe, und da er ihn nicht finden konnte, fragte er, wo der Kopf des Vogels sei. Die Frau antwortete: „Ißt man denn den Kopf eines gebratenen Vogels? Der Rumpf ist es doch, auf den es ankommt. Als ich den Braten bereitete, weinte mein Sohn. Ich konnte mich nicht entschließen, ihm ein Stück Fleisch zu geben, da du es behalten solltest. Da bat mich die Wärterin um den Kopf, um ihn zu beruhigen. Ich schnitt also den Kopf ab und gab ihn der Wärterin. Das Kind hat ihn auch gegessen.“
Als der Wechsler dies hörte, war er ganz bestürzt, warf die Schüssel mit dem Vogel auf die Erde, verließ in seinem Zorne das Haus und ging zu dem vorher genannten Weisen, dem er die Geschichte ganz genau erzählte. Dieser sagte: „Sei nicht traurig. Wenn dein Wort etwas bei der Frau vermag, so läßt sich die Sache heilen. Nämlich, wenn jemand den Kopf desjenigen, der den Vogelkopf verzehrt hat, ißt, so wird er Kaiser. So steht es geschrieben.“ Der Wechsler schickte also der Frau folgende Nachricht: „Ich wollte den Kopf des Vogels essen, da du ihn nun deinem Sohne gegeben hast, so mußt du deinem Sohne den Kopf abschneiden und ihn mir zu essen geben. Dann komme ich wieder in dein Haus. Wenn nicht, werde ich mich nie wieder sehen lassen.“
Da die Verfluchte ganz von ihrer fleischlichen Lust beherrscht war, so war sie bereit, ihren Sohn zu töten, wenn nur ihr Geliebter wieder käme, und sandte ihm Nachricht, sie würde mit tausend Freuden es bei Gelegenheit tun.
Der Wechsler war sehr froh, und die Frau spähte nach einer Gelegenheit. Die Wärterin des Ferid aber ahnte, daß ihre Herrin ihn töten wollte. Eines Nachts, als die Herrin schlief, drückte die Wärterin das Kind an ihre Brust und [248]verließ das Haus und die Stadt. Indem sie bis zum Morgen lief, kam sie in eine andere Stadt. Am nächsten Tage von dieser wieder in eine andere und so kam sie nach dreißig Tagen in die Residenz des Kaisers. Dort fand sie eine passende Wohnung und widmete sich der Erziehung Ferids.
Als aber die Frau am nächsten Morgen aufstand und den Ferid und die Wärterin nicht vorfand, suchte sie sie überall. Da sie nicht wußte, wo sie waren, rief sie vom Feuer der Unruhe gefoltert aus: „Ach, was soll ich meinem Geliebten sagen? Vielleicht wird er sich von mir trennen!“ Als der Wechsler die Sachlage erfuhr, gab er die Frau auf und kam nicht wieder. Schließlich starb er, da sein Kummer untröstlich war, an Sehnsucht nach dem Vogelkopf.
Nach einiger Zeit kam auch der Asket wieder von der Pilgerreise gesund zurück. Als er weder den Vogel noch seinen Sohn noch die Wärterin vorfand, fragte er, wo sie seien. Die Frau sagte weinend: „Ach, mein Herr, mögest du wenigstens am Leben bleiben! Sie sind alle gestorben. Durch die Trennung von ihnen bin ich in diese Lage gekommen, daß die Rosen meiner Wangen zu Bernstein geworden sind.“40
Ferid nun, zu dem wir uns jetzt wenden wollen, war herangewachsen und hatte Freude am Reiten und fing an, auf die Jagd zu gehen. Als er einmal wieder zu Pferde auf die Jagd ging, kam er an dem Sommerhause für den Harem des Kaisers vorbei. Der Kaiser hatte nun eine reizende Tochter, die einem Sterne glich. Als sie aus Langweile aus dem Fenster schaute, fiel ihr Blick auf Ferid, und sie verliebte sich von ganzem Herzen in ihn. Als Ferid in das Fenster schaute und das Mädchen sah, verliebte er sich gleichfalls in sie. Beide suchten jetzt nur nach einem Mittel für ihren Liebesschmerz. Der arme Ferid ging jeden Tag unter dem Vorwand, daß er auf Jagd gehe, an ihrem Fenster vorüber und schaute nach dem Mädchen, während [249]dieses schon aufpaßte, wenn er kam, und von oben herabschaute und seufzte.
Einige Zeit verging so ihre Zeit mit Seufzen und Wehklagen, aber eines Tages, als Ferid wieder auf Jagd ging, konnte das Mädchen es nicht mehr aushalten und sagte: „Jüngling, mein Vater ist alt und hat kein anderes Kind als mich. Er versagt mir nichts, was ich von ihm fordere. Ich will ihm nun sagen: ‚Verheirate mich nach Gottes Willen mit diesem jungen Manne.‘ Aber vor einiger Zeit hat mein Vater bei einer besonderen Gelegenheit in Gegenwart der Vezire und Staatswürdenträger meine Heirat an eine Arbeit geknüpft. Ohne diese Arbeit kann er mich nicht verheiraten. Diese Arbeit läßt sich aber nicht ausführen, denn schon viele haben ihr Leben dabei verloren. Ich will sie dir deswegen nicht nur nicht auftragen, sondern nicht einmal nennen.“ Ferid sagte: „Herrin, sage mir, was das für eine Arbeit ist.“ Sie weigerte sich; aber, als er sie beschwor, sie ihm zu nennen, sagte sie: „In der und der Steppe ist der Weideplatz für meines Vaters Pferde. Nun ist dort ein giftiger Drache erschienen, der schon einige von den Pferden getötet hat. Er wohnt dort und hat den Weg dahin abgeschnitten. Es ist unmöglich, dorthin zu kommen. Deswegen hat mein Vater versprochen, demjenigen, der den Drachen tötet, mich zur Gemahlin zu geben.“ Ferid sagte: „Herrin, weißt du nicht, daß Gott im Koran gesagt hat: ‚Wenn ihr Ende kommt, können sie es nicht eine Stunde hinausschieben oder beschleunigen?‘ Jeder trinkt den Becher des Todes erst, wenn sein Lebensbecher bis zum Rande voll ist, und seinem Ende kann niemand entgehen. Ich werde mich also dem Drachen entgegenwerfen. Wenn Gott mir Gnade gibt und ich den Drachen töte, so erlange ich meinen Wunsch, und wenn das Gegenteil eintritt und ich unter den Krallen des Drachen umkomme, so bete für mich. Wenn ich nicht mit dir vereint werde, sterbe ich doch und, wenn ich sterben muß, so ist es mir einerlei, auf welche Art es geschieht.“[250]
Er faßte also den Entschluß, gegen den Drachen zu ziehen, und sie trennten sich beide unter vielen Tränen. Ferid ging in sein Haus, nahm von seiner Wärterin Abschied und begab sich am nächsten Tage in den Diwan des Kaisers und bat um die Erlaubnis, gegen den Drachen zu ziehen.
Als der Blick des Kaisers auf ihn fiel, faßte er nach Gottes Willen Zuneigung zu ihm, denn Ferid war ein hübscher junger Mann. Der Kaiser sagte zu seinem Vezir: „Lala, ich habe die Hand meiner Tochter an die Tötung des Drachen geknüpft, sonst würde ich meine Tochter diesem jungen Manne geben. Aber, was soll man tun? Die Kaiser müssen ihr Wort halten. Geh, rate ihm, von seinem Vorhaben abzulassen, sonst kommt er vielleicht wie die andern um, und wir haben den Kummer im Herzen. Wer weiß, was Gott alles geschehen läßt, das uns noch verborgen ist? Vielleicht stirbt der Drache von selbst! Er soll doch so gut sein und diesen Wunsch aufgeben.“ Der Vezir tat so. Ferid aber nahm keinen Rat an und antwortete, daß er sicher hingehen werde. So ging er und alle Würdenträger und alle Edlen des Hofes bis zu der erwähnten Steppe. Dort blieben alle und zeigten Ferid die Stelle. Dieser zog im Vertrauen auf Gott sein scharfes Schwert und griff den Drachen an. Da sah er, daß dieser wie ein Feuerklumpen dalag und schlief. Er griff ihn also an, und mit Gottes Hilfe teilte er ihn in zwei Teile, so daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Als er in seinem Blute tot dalag, sprang Ferid herbei und trennte ihm den Kopf vom Rumpfe und brachte ihn dem Könige. Alle Würdenträger, die dies mit ansahen, waren erstaunt. Da aber die Weisen gesagt hatten, daß menschliche Kraft nicht ausreiche, um diesen Drachen zu töten, es sei denn, daß jemand den Kopf des Vogels Heftreng gegessen habe, so fragte man Ferid danach. Dieser erzählte alles, was er von seiner Wärterin gehört hatte. Deswegen liebten ihn die Weisen und die Vezire noch mehr. Der Kaiser freute sich [251]noch mehr darüber, daß Ferid am Leben geblieben war, als darüber, daß der Drache getötet war, und richtete eine Hochzeit mit königlicher Pracht her und verheiratete ihm seine Tochter. Da der Kaiser sehr alt war, ernannte er ihn zu seinem Nachfolger, und Ferid wurde unabhängiger Kaiser.
Darauf schickte Ferid in seine Heimat, um seine Mutter, seinen Vater und, um ihn zu töten, den Wechsler holen zu lassen. Der Wechsler war aber schon seit langem tot. Der Asket und seine Frau begaben sich voller Furcht, was der Kaiser wohl von ihnen verlange, zu ihm und, nachdem sie alle Zeremonien erfüllt hatten, sahen sie, daß es ihr Sohn Ferid war. Dieser ließ nun das Vergangene vergangen sein, ernannte seinen Vater zum Vezir und seine Wärterin zur Oberaufseherin über alle Sklavinnen seines Harems. Als sie dann allein waren, erzählte er seinem Vater in Gegenwart der Mutter, was sich ihnen allen seit seiner Jugend ereignet hatte. Da schämte sich die Frau sehr, sagte aber, daß zwischen ihr und dem Wechsler nichts Häßliches passiert sei, daß sie nur von Angesicht ineinander verliebt gewesen seien, und daß sie auch dies bereue und dafür um Verzeihung bitte.