Auf Mittwoch nachmittag hatte Ottilie ihre „Gruppe“ zu sich gebeten zu gemeinsamem Lesen einer kleinen Biographie von Schiller. Frau Reinwald hatte Gretchen die Erlaubnis gegeben, hinzugehen, obwohl an diesem Abend die lang vorbereitete große Gesellschaft im Hause Reinwald stattfinden sollte. Gretchens Hilfe war noch nicht hoch anzuschlagen, man konnte sie am Nachmittag schon entbehren.
Als Gretchen die Treppe hinuntersprang, traf sie auf derselben mit Frau Batz zusammen; diese war schon am Morgen ein paar Stunden dagewesen, um Pastetchen zu backen und andere Vorbereitungen zu treffen, und nun rückte sie an, um ihr Meisterstück in der Küche zu leisten. Neben Frau Batz auf der Treppe vorbeizukommen, war nicht so leicht, denn sie brauchte schon an gewöhnlichen Tagen fast die ganze Treppenbreite für sich, und an solch großen Tagen, wie der heutige, war sie noch umfangreicher. Im Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit machte sie auch nicht Platz für so unbedeutende Menschenkinder wie unser Gretchen. Diese drückte sich ganz bescheiden an die Wand und grüßte sogar recht freundlich, denn sie wußte, daß die Mutter und Franziska schon sehnlich auf die Kochfrau warteten. Sie selbst teilte diese Sehnsucht nicht, war froh, daß sie treppab gehen durfte, und ganz zufrieden, daß ihr die vorüberschreitende Größe nur den Hut krumm geschoben hatte, den konnte man ja wieder zurechtrücken.
Bei Ottilie fand sie schon Elise Schönlein und auch Frau von Lilienkron war eben eingetreten, um die Mädchen zu begrüßen. Gretchen kam sonst nie in dies Haus und hatte Frau von Lilienkron nur gelegentlich bei Ausstellungen in der Schule gesehen.
„Sie sind immer noch so frisch und rotbackig, wie ich Sie als kleines Mädchen gesehen habe,“ sagte Frau von Lilienkron freundlich zu Gretchen, „und dabei sehen Sie immer so vergnügt aus, wie wenn Sie gerade ein ganz besonderes Glück erlebt hätten.“
„Heute ist das aber auch der Fall,“ erwiderte Gretchen, „ich wollte es gerade Ottilie erzählen: wir haben heute die Nachricht bekommen, daß unsere Lene, die so lang bei uns war und voriges Jahr geheiratet hat, ein Kind bekommen hat.“ Es schien, als ob Frau von Lilienkron dies nicht als ein so außerordentlich glückliches Ereignis zu würdigen wußte; aber Ottilie fügte bei: „Gretchen ist so anhänglich an sie, daß sie immer noch zu ihr kommt.“ „Freilich,“ bestätigte Gretchen, „und Lene hat drei Stiefkinder, lauter Buben, und ihr eigenes Kind ist ein Mädchen, das ist doch eine große Freude?“ Auf diese dringende Aufforderung hin war auch Frau von Lilienkron bereit, sich über Lenes Kind zu freuen. Sie sprach noch ein wenig mit den beiden Mädchen und ließ sie dann allein.
Eifrig wurde nun an die Arbeit gegangen. Sie lasen zusammen die Biographie von Schiller, merkten an, was ihnen wichtig schien zu lernen, und verabredeten, was jede von ihnen übernehmen sollte. Waren sie uneins, so galt wie in stillem Übereinkommen Ottiliens Stimme als ausschlaggebend, und so ging alles glatt. Am Schluß wurde ausgemacht, daß man am Samstag wieder zusammenkommen solle.