„Ganz einfach,“ sagte Gretchen, „wir bitten Fräulein von Zimmern um eine Stunde, und sie fragt uns ab.“ Aber dies gefiel der Französin nicht. „Ihr werdet euch nicht so nüchtern, wie alle Tage, um den grünen Tisch setzen,“ sagte sie, „es treten sonst die Gruppen gar nicht hervor. Ihr solltet euch getrennt in fünf Gruppen im Halbkreis aufstellen, Fräulein von Zimmern in der Mitte, so wird es hübsch. Seht, so!“ Fräulein Bertrand stellte die Mädchen je drei und drei im Halbkreis auf, wobei es sehr lebhaft und fröhlich zuging, bis zu dem Moment, wo plötzlich jeder Laut verstummte und alle wie versteinert stehen blieben – denn Fräulein von Zimmern trat ein.
Sie hatten ja nichts Böses getan und doch kam es allen vor, als wären sie auf einem Unrecht ertappt worden. Jedenfalls war nun ein peinliches Ausfragen zu erwarten, und man konnte doch nicht befriedigend antworten, wenn man die geplante Überraschung nicht verderben wollte.
Aber es kam anders. Fräulein von Zimmern kannte Fräulein Bertrand als eine altbewährte gewissenhafte Lehrerin, sie kannte auch ihre „Großen“ als eine fleißige Klasse, und so war sie weit entfernt, Böses zu vermuten. Freundlich wandte sie sich an Fräulein Bertrand: „Ich habe in dem untern Zimmer die ungewohnte Unruhe über mir bemerkt und dachte mir gleich, daß Sie Spiele machen ließen. Es ist sehr anerkennenswert, daß Sie sich diese Mühe geben. Ihre Schülerinnen können dabei manchen Ausdruck kennen lernen, der in der Grammatik nicht vorkommt.“ Etwas verlegen entgegnete Fräulein Bertrand: „Gewiß sind Spiele eine gute Übung und ich will gern welche mit den Mädchen einüben.“
„Ich bin eben heraufgekommen, um zu sehen, wie Sie das angreifen. Lassen Sie sich nicht stören, machen Sie weiter;“ und Fräulein von Zimmern setzte sich in eine Fensternische, entschlossen, zuzusehen.
Lehrerin und Schülerinnen wechselten bestürzte Blicke. Einige wußten sich vor unterdrücktem Lachen kaum zu halten; Fräulein Bertrand befand sich in schwieriger Lage, da kam ihr Ottilie mit großer Geistesgegenwart zu Hilfe. „Bitte, Fräulein Bertrand, ‚la ronde‘,“ rief sie und damit nannte sie ein Spiel, so einfach wie unser deutsches „Ringe-Ringe-Reihe“; sie selbst und ihre Cousine hatten das mit ihrer Bonne als Kinder gespielt und Ottilie nahm an, Fräulein Bertrand müßte es kennen. „Gut,“ sagte Fräulein Bertrand, „sage du den Text zuerst deutlich vor.“
Ottilie sprach das kindische Verslein. Alle ihre Mitschülerinnen hatten erfaßt, daß es nun galt, schnell die Worte zu behalten, und als sich nun die Mädchen an der Hand faßten, sich im Kreis drehten und den Vers dazu sagten, hätte man nicht gedacht, daß es zum erstenmal geschah. Fräulein von Zimmerns Erwartungen schienen aber auch nicht voll befriedigt, denn sie wandte sich an Fräulein Bertrand mit der Frage: „Ist dies Spiel nicht etwas zu kindlich für die Oberklasse?“ „Es ist ein erster Versuch,“ entgegnete die Lehrerin, „ich werde passendere Spiele wählen und dieses mit den Kleinen einüben.“ „Das wird mich sehr freuen,“ sagte Fräulein von Zimmern und verließ mit freundlichem Gruß die Klasse.
Sie hatte sich kaum entfernt, als die unterdrückte Heiterkeit bei allen Mädchen durchbrach. Fräulein Bertrands Ermahnungen zu Ruhe und Ernst wollten lange nicht fruchten, denn sie wurden mit gar zu heiterer Miene gegeben.
Diesem Zufall verdankt es das Institut von Fräulein von Zimmern, daß heute in den meisten Klassen französische Spiele eingeführt sind.