Gretchen hatte scherzhaft an Hermine geschrieben, sie habe angefangen, Spanisch zu lernen, und sie wolle ihr nur mitteilen, daß man Córdova aussprechen müsse und nicht Cordōva. Sofort kam als Antwort auf ihren Brief ein von Herminens Hand adressiertes Packetchen, und als Gretchen es sehr begierig öffnete, fiel ihr entgegen, was sie am wenigsten erwartet und gar nicht begehrt hatte: ihre englische Grammatik. Aber ein langer, liebevoller Brief der Freundin entschädigte sie für die Enttäuschung. Hermine legte Gretchen ans Herz, sie möge doch über dem Studium des Spanischen nicht die Schulfächer versäumen, sie würde sonst gewiß ihren zweiten Platz nicht behaupten können. In der Grammatik fand Gretchen alles rot angestrichen, was ihr die fürsorgliche Freundin zum Repetieren für die nächsten Probearbeiten empfahl.
Gretchen war sehr belustigt über den Schrecken, den ihr halbstündiges Studium des Spanischen der Freundin eingeflößt hatte; sie widmete sich von nun an jeden Abend eine Zeitlang ihrer englischen Grammatik, und beruhigte Hermine bald durch ein möglichst sorgfältig geschriebenes, englisches Briefchen. Die Abendstunden waren freilich die einzig ruhigen, die Gretchen zur Verfügung hatte, denn den ganzen Tag waren die Kleinen um sie. Sie freute sich aber, so oft die Kinder gesund erwachten und sie ihre Pflegebefohlenen der Tante vom Hof aus zeigen konnte. Denn die Erkrankungen an Scharlach nahmen immer zu in der Stadt, auch Hugo war noch nicht außer Gefahr. Die Tante selbst war sehr angestrengt von der Pflege, und da es so viele Kranke in der Stadt gab, konnte sie nicht so oft, als es nötig gewesen wäre, Hilfe durch Diakonissinnen bekommen.
Seitdem Gretchen einmal so energisch ihrem Vetter Oskar gegenüber aufgetreten war, hatte sie keine besonderen Schwierigkeiten mehr mit ihm gehabt, aber es kam ein Tag, an dem ein Wendepunkt in diesem Verhältnis eintrat und der kleine Schlingel über seine junge Erzieherin den Sieg davontrug.
Oskar war nicht sehr fleißig in der Schule, und es war notwendig, seine Schulaufgaben daheim zu überwachen. Als sich nun Gretchen einige Male darum bekümmert hatte, merkte sie, daß Oskar ihre Hilfe durchaus nicht wünschte, sondern ihr lieber mit seinen Schulsachen aus dem Wege ging, wie einer, der kein gutes Gewissen hat. Heute, als sie rasch an den Tisch trat, an dem er saß, bemerkte sie, wie er hastig etwas zu verdecken suchte. Vor ihm lag sein Rechenheft, aber halb verdeckt durch Bücher lag neben demselben noch ein anderes Heft, und auf dessen Decke stand der Name eines Mitschülers. Bald hatte Gretchen herausgefunden, daß Oskar die Rechnungen, die er für den nächsten Tag machen sollte, von dem Heft eines Schulkameraden abschrieb. Oskar, der sonst so trotzige, kleine Bursche, fing nun an, ganz rührend zu bitten, Gretchen möge es seinem Vater nicht verraten, und versprach ihr, nie mehr abzuschreiben. Sie beruhigte sich dabei, denn es war ihr lieb, wenn sie den onkel nicht mit Klagen über die Kinder beschweren mußte. Sie war auch überzeugt, daß Oskar sein Versprechen halten würde.
Am nächsten Tag aber fiel es ihr auf, daß er seine Schultasche nicht ins Zimmer hereinbrachte, auch lag dieselbe an keinem der Plätze, wo er sie sonst gelegentlich ablegte. Sie wollte ihn nicht fragen, denn sie hätte ihr Mißtrauen gar nicht zeigen mögen. Später führte ein Zufall sie in das Zimmer, in dem Oskar schlief, und da sah sie seine Schultasche hinter dem Bett verborgen liegen, und wie am Tag vorher, waren wieder zwei Hefte in derselben. In dem Augenblick, als sie die Tasche in der Hand hielt, kam Oskar in das Zimmer, und stand sichtlich betroffen, als er Gretchen an seinem Versteck sah.
„Oskar,“ fragte sie, „hast du doch wieder abschreiben wollen?“
Trotzig antwortete der Junge: „Ja, aber es geht dich nichts an, du hast dich nicht um meine Sachen zu kümmern!“
„Aber Oskar, was hast du mir gestern versprochen! Nun muß ich’s deinem Vater sagen!“
„Wenn du’s dem Vater sagst, dann springe ich zum Fenster hinaus!“ rief ganz außer sich der Junge, und im Nu schwang er sich auf den Sims des offenen Fensters, trat auf den äußersten Rand desselben, bereit, hinauszuspringen. Gretchen war keine ängstliche Natur, und ließ sich nicht leicht einschüchtern, aber bei diesem Anblick wich ihr alles Blut aus den Wangen.