Aber die Königin war nicht nur Majestät, sie war auch Mutter, und das dringende Verlangen, ihr Kind zu sehen, freute sie. Gütig lächelnd sagte sie: „Ja, Sie sollen die Prinzessin sehen, kommen Sie!“ und sie führte Gretchen durch eine Portiere in das anstoßende Gemach. Auf weichen Teppichen schritten sie lautlos bis an die Wiege, neben der die Wärterin stand. „Schläft sie noch?“ fragte die königliche Mutter. „Sie hat noch keinen Laut gegeben,“ erwiderte die Frau. „Wir müssen sie doch sehen,“ sagte die Königin und zog sachte die zarten Tüllvorhänge der Wiege auseinander. Und als sie beide – die Königin von der einen, Gretchen von der andern Seite in die Wiege blickten, waren sie gleich sehr überrascht, denn mit offenen Äuglein sah das Kind ihnen entgegen.
„Sie wacht ja,“ rief Gretchen ganz entzückt. Bei diesem hellen Ruf und dem Anblick von Gretchens Erscheinung verklärte ein Lächeln das winzige Kindergesichtchen. „Ei,“ rief die Königin, „sie lächelt Sie an! Da werde ich fast eifersüchtig, denn sie ist noch sparsam mit ihrem Lächeln, nicht wahr, Frau Walter?“ „Ja,“ sagte diese, „Prinzessin ist erst neun Wochen alt, da kann man nicht viel verlangen.“ „Wie lieblich sie aussieht, was sie für ein klein winziges Mündchen hat!“ rief Gretchen ganz entzückt, und die Kleine schien Gefallen zu finden an dem blonden, rosigen Kopf, der sich über sie neigte, und an der hellen Stimme, sie lächelte wieder. „Sie hört Ihre Stimme gern,“ sagte die Königin.
Da fing Gretchen leise an, die Worte zu singen, die ihr noch in den Ohren klangen: „Prinzeßchen fein, Prinzeßchen klein.“ Die Kleine horchte und ihre Äuglein hafteten auf dem Röschen, das Gretchen angesteckt hatte und das sich bewegte. „Das Röschen gefällt ihr,“ sagte die Wärterin. Gretchen steckte es ab und bewegte es hin und her, und die Kleine folgte mit den Augen. „Darf ich ihr’s geben?“ fragte Gretchen, zu der Königin aufblickend. „Wenn Sie es gerne geben, dann können wir es an dem Vorhang befestigen, daß sie es vor sich sieht.“ „Es ist Zeit zum Trinken,“ mahnte die Wärterin. „Dann wollen wir nicht länger stören,“ sagte die Königin und drückte einen Kuß auf die kleine Stirne. „Lebwohl, mein Liebling, wachse mir auch so blühend heran wie diese Tochter, die dir so gut gefällt!“ Gretchen griff nach einem der kleinen Händchen, die aus dem Spitzenjäckchen hervorsahen und hätte es vielleicht geküßt, wenn es die Hofdame nicht untersagt hätte. So sagte sie nur: „Behüt dich Gott, Prinzeßchen!“ folgte der Königin in ihr Gemach und nicht nur auf Befehl der Hofdame, auch aus eigenem Herzensdrang dankte sie der königlichen Mutter für die Freude, die sie gehabt hatte. „Es tut mir leid,“ sagte die Königin, „daß ich den andern Mädchen nicht auch die Freude machen darf. Erzählen Sie heute noch nichts von Ihrem Besuch bei der Prinzessin, es täte vielleicht den andern weh.“ „Ich will nichts davon sagen,“ versprach Gretchen, „ich freue mich nur, bis ich es heute abend meinen Eltern erzählen darf.“
Mit strahlenden Augen kehrte Gretchen in den Saal zurück, wo sich manche über ihre Abwesenheit gewundert hatte. „Du hast dein schönes Röschen verloren,“ sagte Hermine, sobald sie Gretchen erblickte. „Macht nichts,“ entgegnete diese übermütig, „morgen erzähle ich dir, wo ich es gelassen habe!“