Die Königin verließ grüßend den Saal und nun wurde es belebt an den Tafeln. Die Kinder untereinander plauderten, Diener erschienen und schenkten aus silbernen Kannen Schokolade in die reizenden Täßchen und boten Kuchen dazu an. Rudi und Betty wären vielleicht enttäuscht gewesen; denn solchen Kuchen hatten auch „gewöhnliche Menschen“ schon gegessen. Aber später hätten sie kennen gelernt, was ihnen vielleicht noch besser als Rahmtorte erschienen wäre; als die Kinder nach verschiedenen Spielen, die mit ihnen gemacht wurden, noch einmal an der Tafel Platz nehmen durften, standen auf den Tischen silberne Körbchen, die wie Blumen- und Obstkörbchen anzusehen waren. Aber die Rosen und Lilien, die Birnen und Kirschen, die darin lagen, waren alle aus Gefrorenem gebildet und hatten gar feinen Geschmack.
Die Kinder waren nicht mehr still wie anfangs, fröhliches Leben herrschte in dem Saal, einzelne Damen sprachen da und dort die Kinder an, Diener eilten hin und her. So wurde es kaum bemerkt, als eine der Hofdamen zur Gruppe von Fräulein von Zimmerns Schülerinnen trat und leise zu Gretchen sagte: „Kommen Sie mit mir.“ Gretchen folgte und verließ mit der Dame den Saal. Im Vorsaal sprach diese zu ihr: „Ihre Majestät die Königin will Ihnen die große Ehre erweisen, Ihnen die Prinzessin zu zeigen. Majestät hätte gern allen diese Gunst erwiesen, es kann aber nicht sein und wurde wohl auch von vernünftigen Menschen nicht erwartet. Sie scheinen diese Hoffnung gehegt zu haben, und in ihrer großen Güte kann die Königin den Gedanken nicht ertragen, daß einer ihrer Gäste enttäuscht von dem Fest heimkehre. Ich soll Sie deshalb in die Gemächer der Prinzessin führen. Sie werden nicht vergessen, sich für diese Auszeichnung zu bedanken, und werden der Prinzessin nicht zu nahe treten oder gar ihr die Hand küssen, wodurch Ansteckung möglich wäre.“
„Ich bin nicht krank,“ sagte Gretchen. „Wer kann das wissen? Vorsicht schadet nie.“ Gretchen kam es vor, als ob ihre Führerin nur widerwillig den Wunsch der Königin erfüllte. Sie fühlte sich dadurch bedrückt und hätte in diesem Augenblick leicht auf die ihr zugedachte Ehre verzichtet. Still ging sie neben der Hofdame im rauschenden Seidenkleid durch die langen Korridore der Residenz. Endlich war das Ziel erreicht. Auf leises Klopfen wurde ihnen die Türe von einer einfach gekleideten Frau geöffnet. Es war die Amme der Prinzessin, die leise die Türe wieder hinter den Besuchen schloß und sich in das Nebengemach zurückzog. An einem Fenster des hohen, freundlichen Zimmers, durch das die Frühjahrssonne warm herein schien, saß die Königin.
„Majestät,“ sprach die Hofdame, „hier ist Margarete Reinwald.“ Die Königin erhob sich grüßend und sprach dann zu der Hofdame: „Lassen Sie mir das Mädchen hier, ich werde sie zurückbegleiten lassen.“ Zu Gretchens großer Befriedigung verließ die feierliche Dame auf diese Worte hin das Zimmer. Allein mit der Königin, die sich so gütig gegen sie gezeigt hatte, fühlte sie sich nicht mehr befangen. Jetzt überkam sie die große Freude, daß sie die kleine Prinzessin sehen sollte, und mit großem Verlangen sagte sie: „Darf ich wirklich das Prinzeßchen sehen? O wo ist sie denn?“ Es war gut, daß die gestrenge Hofdame nicht mehr anwesend war! Was hätte sie dazu gesagt, daß Gretchen so gegen die Etikette verstieß, indem sie zuerst das Wort an die Königin richtete!