„Aber Gretchen, wie kannst du so etwas nur sagen, das geht doch nicht!“
„Nun, dann muß ich mich eben wieder anstrengen, aber hab ich denn nicht im englischen Diktat bloß einen Fehler gehabt und Ottilie drei?“
„Nein, gerade umgekehrt war’s, wie du nur so etwas vergessen kannst!“
„Dann war’s im Französischen so.“
„Im Französischen hast du zwei und sie drei Fehler gehabt. Im Aufsatz hast du ja die beste Note, aber ich habe Angst, daß Fräulein von Zimmern dir die Geschichte mit der Ohrfeige für eine schlechte Note anrechnet. Du weißt ja, daß sie so etwas immer mit in Betracht zieht.“
„Das wäre aber ungerecht, denn wer weiß, ob Ottilie an meiner Stelle nicht zehn Ohrfeigen gegeben hätte. Wenn man keine Schülerin hat, ist es keine Kunst, daß man sie nicht mißhandelt. Da sei nur ganz ruhig, das kommt bei meinen Noten gewiß nicht in Betracht.“
„Aber gelt, du tust dein Möglichstes. Denke, wenn nun Ottilie, die ohnedies schon so hochmütig ist, über dich käme! Mir gefiele es dann gar nicht mehr in der Schule. Wenn’s noch eine andere wäre, aber gerade die einzige, die dich nicht mag.“
„Mag sie mich denn nicht?“
„Ihr steht doch ganz schlecht miteinander!“
„So? Das habe ich eigentlich noch gar nicht bemerkt.“
„Aber Gretchen, das wissen doch alle!“
„Nun ja, dann wird’s ja wohl so sein, aber ich habe ihr doch nie etwas getan.“
„Aber sie dir.“
„Was denn?“
„Weißt du nicht mehr, wie sie dir einmal absichtlich falsch eingesagt hat und wie sie dich verklagt hat?“
„Ach, das war ja schon voriges Jahr, ja, wenn du so weit zurückdenkst, da kann viel vorgekommen sein, das sind doch alte Sachen.“
„Nun ja, aber sie ist doch noch dieselbe und sie soll nicht zwischen uns kommen.“
„Nein, nein, ich will also mein Möglichstes tun, ich möchte ja doch auch neben dir sitzen, lieber als neben irgend einer andern, das weißt du ja!“
Der heutige Schultag brachte wieder die Stunde, die monatlich nur einmal wiederkehrte; um elf Uhr erschien Pfarrer Kern, und man konnte es ihm und den Mädchen anmerken, daß sich beide des Wiedersehens freuten. Fräulein von Zimmern, die ihn seit vielen Jahren als den treuesten Freund ihrer Schule schätzen gelernt hatte, empfand selbst Lust, der Stunde beizuwohnen, geleitete ihn in das Zimmer ihrer „Großen“, und rückte sich einen Stuhl in eine der Fensternischen, wo sie halb verborgen saß.
Nachdem der Pfarrer in seiner heitern, freundlichen Weise die einzelnen Schülerinnen begrüßt hatte, sagte er: „Ich habe euch beim Beginn des Schuljahrs gesagt, daß es mich freuen würde, wenn ihr selbst mir durch Fragen Gelegenheit geben würdet, über solche Dinge zu reden, die euch beschäftigen. In den ersten Stunden ist dies nicht geschehen. Diesmal aber ist mir von einer meiner Schülerinnen, die sich nicht genannt hat, eine Frage zugeschickt worden. Ich habe mich darüber gefreut und möchte die Frage nun beantworten.“