Die Königin wandte sich an ihre Begleiterin: „Ich wünschte noch die beiden Freundinnen zu sehen, von denen eine der andern die Einladung zu unserem Fest abtreten wollte. Kennen Sie dieselben wohl?“
„Soviel ich weiß, gehören sie zu dem Institut von Fräulein von Zimmern,“ erwiderte die Hofdame; „diese sitzen an der andern Tafel, ich werde sie Ihrer Majestät zuführen.“
Gretchen und Hermine wären schon von weitem zu erkennen gewesen an dem Erröten, als sie hörten, daß die Aufmerksamkeit der Königin sich ihnen zuwandte. Die Hofdame hatte sie auch bald herausgefunden und ihnen einen Wink gegeben, ihr zu folgen. Obwohl sie gewußt hatten, daß die Königin Gastgeberin bei diesem Fest sein würde, hatte doch keine von ihnen an die Möglichkeit gedacht, daß unter den Hunderten von Kindern gerade sie persönlich vorgestellt würden, und sie sahen sich im ersten Augenblick betroffen an. Hermine ließ Gretchen den Vortritt; sie fühlte sich gedeckt durch deren größere Gestalt und beruhigt durch die Erfahrung, daß Gretchen selbstverständlich die Sprecherin machte in allen schwierigen Fällen des Lebens. Den beiden Mädchen kam zu statten, was sie bei Fräulein von Zimmern gelernt hatten. Es war ihnen nichts Fremdes, sich anmutig zu verneigen, sie standen nicht steif und unbeholfen vor der Königin, die sie nun anredete: „Welche von Ihnen beiden ist nun die Erste?“
„Gegenwärtig bin ich’s,“ antwortete Gretchen, „aber in den letzten Jahren war es immer Hermine, und nur diesen Winter ist sie durch eine Krankheit zurückgekommen.“
„Dann wäre es allerdings bitter für Sie gewesen,“ sprach die Königin zu Hermine, „nicht bei dem Fest zu sein.“ Mit Tränen der Erregung kämpfend brachte Hermine nur ein leises „Ja!“ hervor. „Und Sie,“ fuhr die Königin zu Gretchen gewendet fort, „hätten sich nicht der Freude hingeben können, während die Freundin trauert. Ich begreife wohl, daß Sie ihr lieber die Einladung abtreten wollten. Aber es ist Ihnen doch wohl schwer geworden, auf das Fest zu verzichten?“ „Ja,“ sagte Gretchen, „ich hatte mich so gefreut, ganz besonders darauf, die kleine Prinzessin zu sehen.“
„Das tut mir leid,“ entgegnete die Königin, „ich fürchte, da wird Ihnen das Fest eine Enttäuschung bereiten. Die Prinzessin ist zu zart, um in so große Gesellschaft gebracht zu werden. Es war mein Wunsch, sie den Kindern allen zu zeigen, aber der Arzt hat es nicht erlaubt.“ „O wie schade,“ rief Gretchen sichtlich enttäuscht, „wir wären gewiß alle ganz leise gewesen, wenn man die Prinzessin hereingebracht hätte.“
„Das glaube ich,“ erwiderte die Königin; „aber es handelt sich dabei um die Luft, die dem Kindchen unzuträglich sein könnte. Haben wohl alle Kinder die Hoffnung gehegt, die Prinzessin zu sehen?“ „Ich weiß nicht,“ entgegnete Gretchen. Da wagte Hermine auch ein Wort. „Nein,“ sagte sie, „außer Gretchen hat es niemand geglaubt.“ Schon hatte diese auf den Lippen zu sagen: „Ich habe es durch den Hofkutscher Plitt erfahren,“ als ihr noch rechtzeitig ihr Taktgefühl eingab, daß es diesem Mann vielleicht unangenehm wäre, wenn hier erwähnt würde, was er geplaudert hatte. So unterdrückte sie die Bemerkung. „Ich hoffe, Sie werden dennoch vergnügt sein an meinem Fest,“ sagte die Königin huldvoll, „zwei so gute Freundinnen sind immer glücklich miteinander!“ Sie reichte den beiden Mädchen die Hand, sie waren entlassen. Während sie an ihren Platz zurückkehrten, flüsterte Gretchen Hermine zu: „Das war so etwas zum Erzählen für unsere Urenkel!“