Schon als ganz kleines Kind war sie anders als die übrigen. Sie schien gesund und blühend, hatte auch volle, runde Kinderbacken. Aber immer kam ihr junger Organismus bei geringsten, fast unbeachteten Anlässen zu Erschütterungen, die von Verdauungsstörungen und heftigen Krämpfen im Unterleib gefolgt waren. Dann legte man sie zu Bett und sie träumte.
Für sie war Kranksein und im Bette liegen der Inbegriff des Schönsten.
Dann starrte sie vor sich hin, dachte, sie läge in einem gläsernen Sarge, der weit hinausschwämme ins ferne Meer, wo nichts zu erblicken als sie und weite Wolken und unendliche Wässer.
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Dieses Lieblingsbild ihrer Kinderphantasie war charakteristisch für ihr Wesen. Selbst bewegungslos aus dem kleinsten Raum in das Unendliche hinauszuträumen. In ihm, der Ausgeburt eines kaum dreijährigen Gehirnes, lag schon der Keim für ihr ganzes künftiges Werden.
Sie blieb bewegungsfaul und träumte gerne. Lachen, springen, lärmen war ihr ein Gräuel. Bis in ihr zwölftes Jahr hatte sie überhaupt niemand lachen gesehen. Noch weniger springen oder laufen. In einer Ecke zusammengekauert oder die gefalteten Hände ums Knie geschlungen, während die weiten Pupillen verloren in die Ferne starrten, war ihr am wohlsten.
Später kam jene Zeit der Unruhe, der Fieber, des Unbehagens ohne Grund, wo aus dem Kind das Weib geboren werden soll.
Da löste sich das erste Lächeln von den geschlossenen Lippen und unter Schmerzen, Zittern und Stolz fühlte sie sich, dem Kinde entwachsen, Mädchen, Weib.
Das war die erste Freude in ihr. Etwas, was sie mit andern einte, gleichmachte.
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Denn die Mädchen tuschelten untereinander, ganz rot: „Hast du schon? — hm? — du verstehst —???“
Und die, so noch Kinder waren, wurden wie etwas gar Verächtliches angesehen! Aber in den Augen der andern lag ein Glanz, in ihrer Haltung plötzlich über Nacht ein Stolz, wie in der Pflanze, die eine Blüte angesetzt.
Tatjana kam einst in die Pensionsklasse; sie, die stets zu früh erschien, um sich schweigend, gleich wie in ein Versteck auf ihren Platz zu flüchten, hatte sich verspätet.
Fast alle Kolleginnen waren schon anwesend und sahen mit Erstaunen auf das fast diaphane Antlitz Tatjanas, deren Augen fiebrig glänzten.
Eine Freundin zog sie in die Fensterecke. „Aber Tatjana, was ist’s denn? Ich wette, du — — —“
„Ja,“ sprach Tatjana. Und eine königliche Würde lag in Wort und Geberde.
Damals, als sie ihnen gestehen konnte, daß sie das Schicksal reif zum Leben befunden hatte.
Und allen war heilig und schicksalsbang[S. 37] über das, was kommen mußte und vor ihnen lag, noch in Dunkelheiten verhüllt.
Aber sonst gab es nichts Gemeinsames zwischen ihnen und ihr.
Das Geschehen rollte der Zeit entlang. Die einen heirateten, andere studierten, andere mußten Stellen zu ihrem Lebensunterhalte suchen. Das äußerliche Leben ist so schwer und drängt fast alle in denselben Weg nach Brot.
Aber es giebt noch ein innerliches Leben; dies lebte Tatjana.
Gerade als ihre Eltern für sie einen soliden Herrn gefunden hatten, der pensionsfähig war, weder trank noch Karten spielte, noch sich in schlechter Gesellschaft umhertrieb, erklärte Tatjana, sie wolle ins Kloster.
Man denke den Jammer ihrer Eltern! Sie war mit diesem Herrn so gut als verlobt. Während sie bisher mit den beiden die Abende verplaudern mußte, hatte sie nun diesem Herrn Antworten zu geben, auf all das Verschiedene, was er sie fragte und worin er manchmal die Würze belehrender Wahrheiten einstreute. Aber[S. 38] Tatjana hörte nicht darauf. Wenn sie nun auch wohlerzogen genug war, in anmutsvoller Haltung scheinbar lauschend hinzuhorchen, so blieb ihre Seele doch zusammengekauert und träumte ins Weite.
Man zog über die Geistlichkeit los, die die Seelen verführe und von allem praktischen abwende. Sie solle sagen, wessen Einflüsterungen sie erlegen sei. Wer doch der intrigante Priester wäre, der sie lehre, dem Willen ihrer Eltern entgegen zu sein. Wann? wo? man ließ sie doch nie allein.
Tatjana verstand nicht einmal, was Vater und Mutter meinten. Ihr hatte niemand zugeredet. Ganz zufällig las sie in einem Zeitungsfetzchen, worin eine Anstoßschnur, die sie gekauft hatte, eingewickelt war, von einem Kloster, worin das Sprechen verboten sei. Die ärgsten Demütigungen des Stolzes würden dort den einzelnen auferlegt, obwohl zumeist die Erbinnen alter Adelsgeschlechter darin aufgenommen wären. So mußten sie z. B. im Freien Esel oder Gänse hüten. Tatjanas Seele prägten[S. 39] sich nur die ersten Zellen ein: nicht sprechen, allein sein. Auf einer weiten, weiten Wiese, ohne Meer zwar, aber den Himmel über sich. Und ist das nicht der tiefste, geheimnisvollste Ocean, größer als alle Seen der Erde, mit leuchtenden Welten, die darin herumschwimmen, weit hinaus über die weißen Korallenstöcke der Milchstraßen — — —
Ihr wurde weit und wohl, als wäre ihr ganzer Leib ein Gebet an das All.
Aber die Eltern drangen auf Gehorsam, schalten über ihre Hyperreligiosität in Unerkenntnis des heimlichen Grundes ihrer Seelensehnsucht.
So wurde sie, entgegen ihrem Wunsche, dieses Herrn Gemahlin.
Ihr Herz hatte keine Liebesknospen angesetzt, denn ihrem Leben war niemand erschienen, der der weckende Frühling ihrer Seele hätte sein können. Zu Liebschaften war sie aber zu ernst und tief.
Doch wurde sie ihrem Gemahl eine mustervolle Gattin. Und mehr verlangte man nicht[S. 40] von ihr, als dieses Aeußerliche. Mehr hätte sie auch nicht zu geben gehabt. Im Innern aber blieb sie die Gleiche. Nur war der Ocean nun das Leben, das tiefer und unfaßbarer als alle Himmel ist. Und darin schwamm sie im Netze ihres engen Geschicks, einsam, ganz allein umher zwischen den dräuenden Gefahren böser Erfahrungen, die wie Meeresungeheuer ihren Untergang verlangten. Darin träumte sie — im Ocean des Lebens allein.
Und alles äußere Geschehen wurde ihrem innersten Wesen nach ein träumendes Gefühl, wie bei anderen ein Gedanke, oder noch anderen eine That.
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„Und so soll das Leben aus sein, weil sie ihr’s verpfuscht haben? Das eine Leben!!“ rief die resolute Brigitta, welche der Geschichte zugehört und die immer oppositionslustig war.
„Aus? verpfuscht?“ sagte Agnes, während sie sinnend vor sich hinstarrte. „Aber es geht nicht zu verderben.“
„Wieso denn nicht?“ sprach Brigitta,[S. 41] die Specialistin für Eltern- und Erzieherkritik! „Wenn alles gegen ihren Willen ging!“
„Nicht doch,“ entgegnete Agnes. „Alles blieb, wie es sein mußte, ob sie geheiratet hätte oder nicht, geliebt oder nicht, glücklich oder unglücklich gewesen wäre, immer würde sie dieselbe grübelnde Träumerin gewesen sein. Immer, in allen Lebensmöglichkeiten. Also, was hätte jemand daran ändern können? Ein paar äußerliche Zufälligkeiten. Weiter nichts.
Jedes wird, was in seiner Natur vorbereitet liegt.“
„Ja,“ sprach eine, die den Spitznamen Fräulein Chrysantheme trug. Sie war sorgsam gelockt, parfümiert und herausstaffiert wie die kostbarsten jener Treibhauspflanzen, deren Namen man ihr gab. Sie war schon Braut eines sehr reichen Menschen, der den ihr nötigen Luxus verschaffen konnte und von ihr nichts verlangte, als daß sie die Schönste und Eleganteste sei.
Im Gedanken an ihre voraussichtlich glänzende Zukunft wiederholte sie triumphierend mit jenem Stolz ohne Duft ihrer Blumen:[S. 42] „Jedes wird, was in seiner Natur vorbereitet liegt.“