Am Sonntag vor Weihnachten traf ich in der Kleinseitner Brückengasse den Detektiv Wünsch, einen der intelligentesten, aber auch der unglücklichsten Zivilwachleute der Polizeidirektion. Er war seinerzeit bei der Aufdeckung des Doppelmordes in Krtsch, als man die Leichen des Takacz und der Hansely im Keller ausgrub, mit einer Schaufel geritzt und von Leichengift infiziert worden; viele Monate hatte er zwischen Leben und Tod geschwebt. Und jetzt war er wieder krank. Er kam gerade aus der Apotheke. „Meine Lunge ist kaput,“ flüsterte er. Das Sprechen machte ihm Mühe. „Ich werde es nicht mehr lange machen ...“
Ich versuchte ihm das auszureden. „Sie werden noch erwarten können, bis Sie Inspektor werden,“ meinte ich lächelnd, „Sie werden doch dem Staat nicht die Inspektorspension schenken!“ Detektiv Wünsch machte eine abwehrende Handbewegung: „Lassen wir das Thema, ich weiß das besser.“ Dann sagte er:
„Herr Kisch, dieser Tage habe ich mich so an Sie erinnert. Wissen Sie, wohin Sie einmal gehen sollten? In die Wärmestube. Dort könnten Sie Studien machen. Dort haben Sie alle unsere Kerle ...“ Mit dem Ausdruck „unsere Kerle“ meinte er die im Sicherheitsbureau bekannten Falloten. Als ich mich für das Thema zu interessieren begann, fuhr Wünsch fort:
„Sie können sich bei mir umkleiden. Ich wohne in der Nähe, unter der Karlsbrücke, Lužickygasse 10. Dort werde ich Sie anziehen, daß Sie wie ein echter Verbrecher aussehen werden. Von meiner Wohnung aus brauchen Sie dann nur eine Minute in Ihren Fetzen zu gehen, und schon sind Sie in der Wärmestube.“
Ich versprach bald zu kommen und schon am Neujahrssonntag klopfte ich an seine Tür, um die Exkursion anzutreten. Mir öffnete eine Frau.
„Bitte, wohnt hier der Herr Wünsch?“ fragte ich.
„Herr Wünsch wohnt schon in Wolschan draußen,“ wurde mir zur Antwort. Ich glaubte, falsch verstanden zu haben. Aber man bestätigte mir die Nachricht, die mich — schon weil sie mir so unerwartet kam — bodenlos schmerzlich berührte: Herr Wünsch war während der Weihnachtsfeiertage gestorben.
Er konnte also nicht meine Equipierung mehr besorgen, mir keine besonderen Tips für die Stammgäste in der Wärmestube in seiner Nachbarschaft geben. Aber ich beherzigte seinen Rat. In der Filiale der Leichenbestattungsanstalt Fuchs auf der Kampa-Insel warf ich mich in full dress. Nicht in die Fetzen, die ich auf meiner Floßfahrt nach Magdeburg, bei meinem Besuch im Asyl für Obdachlose und bei ähnlichen Streifzügen getragen hatte. Diesmal kam ich nicht als Arbeiter, sondern als obdachloser Müßiggänger, als herabgekommenes Subjekt. Ich glich in meinem, einst ganz elegant gewesenen, aber jetzt schon ganz fadenscheinigen Überzieher, meinen zerfransten Nankinghosen, meinem verbogenen und beschmutzten Kragen — eine Krawatte hatte ich nicht — ungefähr dem Baron in Maxim Gorkis „Nachtasyl“, den hier in Prag Hans Waßmann gespielt hat.
Und nun, da ich mich des Schutzes gegen den Winter entledigt hatte, spürte ich, kaum daß ich auf der Straße war, was es heißt, der Gewalt des Frostes wehrlos preisgegeben zu sein. Von der Čertovka her, dem Moldauarm, der die Kampa umfließt, mischte sich schwere Feuchtigkeit in die eisigkalte Luft, und die dicken Schwaden, welche rings um den brennenden Gaslaternen sichtbar waren, erweckten den Anschein, als ob die frierende Luft sich an die Lichter herandränge, um sich zu wärmen.
Nach kurzem, aber kaltem Wege war ich in der Wärmestube. Sie ist in einem niedrigen Gebäude in der Belvederegasse untergebracht, das an den Landesschulrat anschließt. Rechts ist der Eingang in die Abteilung für Frauen, links in die für Männer. Durch diesen ging ich, durchschritt einen kurzen Korridor und war dann vor einer Glastüre. Ich öffne und bin in der Wärmestube. An dreißig Menschen wenden sich ruckartig gegen den Ankömmling, ich fühle mich von ebensovielen Augenpaaren scharf, durchdringend und verdächtigend gemustert. Ich tue als ob ich das nicht beachte und suche mir ein Plätzchen. Das ist nicht so einfach. Das Zimmer ist klein, und die dreißig Menschen sitzen dicht an einander geschmiegt auf den Bänken, welche an den beiden Längswänden und parallel zu diesen in der Saalmitte, sowie an einer Breitseite aufgestellt stehen. Die der Tür gegenüberliegende Breitwand des Raumes ist frei; hier ist der Eingang in die Küche und der Schalter, an dem man zu Mittag eine Suppe und Brot bekommt. Schließlich schaffe ich mir doch einen Sitzplatz: Zwischen zwei Schlafenden ist eine Handbreit der Bank freigeblieben, und ich, indem ich den einen Schläfer beiseite schiebe — er rückt mechanisch weiter — kann mich niedersetzen. Ich sinke, Apathie heuchelnd, in mich zusammen, und die Blicke der Leute rutschen wieder von mir ab, und die Gespräche, die während meiner Installation verstummt waren, werden wieder fortgesetzt.
Nun erst schaue ich mich um. Da sitzen sie, die wehrlosen Feinde des Frostes, da sitzen sie in ihrer einzigen Zufluchtstätte. Aber auch hier, wo sie der Gegner nicht fassen kann, legen sie ihre schwache Wehr nicht ab. Alle haben ihre zerschlissenen Winterröcke und ihre Hüte anbehalten, alle haben ihre Rockkragen aufgeschlagen, fast alle haben Tücher um ihre Ohren geschlungen. Der eine hat Pulswärmer an — zwei Tuchmuster oder Strumpfteile, die mit Spagat am Handgelenk festgebunden sind. Alle sitzen zusammengekauert und aneinandergeschmiegt da. Besonders dicht ist die Reihe in der Ecke, an dem Eisenofen. Die Zunächstsitzenden halten ihre Hände an den graphitartig glänzenden Ofen, als wollten sie in der kurzen Spanne Zeit ein möglichst großes Quantum Wärme in sich aufnehmen.
Armselige Gestalten! Es ist ein grau in grau gemaltes Bild, das man hier im Lichte der einen Gasflamme sieht. Aber nach und nach unterscheidet man die Grundfarben, erkennt, daß hier zwei Gruppen menschlichen Elends vertreten sind: Arbeitsnot und Verbrechen. Man erkennt das aus den Gesprächen, man sieht es den Menschen an. Einer hat seinen Stiefel ausgezogen und bindet mit schmerzverzerrter Miene einen schmutzigen Fußlappen um seinen über und über blutigen Fuß. Ein anderer, ein junger Bursch, der ein rotes Tuch nicht ohne Koketterie um den Hals gebunden trägt, legt einen Taschenspiegel auf sein Knie und kämmt seinen ohnedies bewunderungswürdig tadellosen Scheitel. Ein alter Mann blättert verzweifelt in seinem Arbeitsbuch — er sucht wahrscheinlich, ob er bei seiner Stellungssuche in Prag nicht einen einstigen Dienstgeber vergessen hat.
Alle fluchen dem Winter. Daß es heuer keinen Schnee in den Straßen zu schaufeln, kein Eis auf der Moldau zu hacken gibt. Die anderen — und es läßt sich nicht verschweigen, daß diese in der Mehrzahl sind — fluchen den Polizeibezirksleitern und Bezirksrichtern, die so streng sind, im Winter milde zu sein.
„Voriges Jahr hab’ ich im Sommer in Deutschbrod drei Wochen wegen Bettelei bekommen, und vorige Woche hat mir der Schuft nur vierundzwanzig Stunden gegeben,“ schimpft einer. Ein anderer lacht wieder:
„Mich hat vorgestern in Smichow der Kommissär gefragt, ob ich mir nicht Arbeit suchen wolle. Da hab’ ich gesagt, ich werde jetzt Hopfen pflücken gehen.“ Alle lachen. Dann wendet sich der Spaßvogel zu dem Burschen mit dem roten Schlips:
„Wer wird denn jetzt Fahnenträger bei den Ausflügen der Sträflinge sein, wenn du ihnen untreu geworden bist.“ Neuerliches Halloh. Aber der Verspottete frisiert sich ruhig weiter:
„Ich hab’s erledigt. Aber du wirst erst anfangen.“
Dann wird der Strafvollzug in den einzelnen Gerichten Böhmens und Mährens einer vergleichenden Erörterung unterzogen. Der eine lobt sich seine Salonzelle in Mährisch-Budwitz, der andere schimpft auf sein Gerichtsquartier in einer südböhmischen Stadt. Auch das Schubwesen und die Behandlung in den einzelnen Schubstationen werden fachlich besprochen, und es gibt keinen Mißstand, der nicht auf Grund reicher Erfahrungen vollkommen aufgedeckt worden wäre. Man sollte die Stammgäste der Wärmestuben bei Enquêten in Justizangelegenheiten heranziehen. Sie sind ja die Hauptbeteiligten, und wären zweifelsohne die bestinformierten Experten.
Einer, der das große Wort führt und viel von Weibern und Pferden erzählt — allerdings von solchen, die nicht edler Rasse sind — hat mich ins Auge gefaßt:
„Gehst du heut’ ins Asyl?“
Ich verneine. Erst am nächsten Donnerstag sei der Monat um, seitdem ich dort war, also könne ich erst nächste Woche wieder hingehen. Dann versinke ich wieder in Schweigen. Aber der Kerl gibt nicht locker.
„Du bist ein Schneider, nicht wahr?“ fragt er mich.
„Ich bin Handlungsgehilfe,“ ist meine Antwort.
„Du handelst wohl mit alten Hadern,“ sagt er und weist auf meinen derangierten Anzug. Ein lautes Lachen geht los.
„Nun ja, jeder kann nicht so elegant herumlaufen wie du,“ gebe ich ihm zurück und habe jetzt die Lacher auf meiner Seite. „Der hat dir einen flek (Trumpf) gegeben,“ ruft ein junger Bursch meinem Widersacher zu. Ich habe in Ehren bestanden.
Einige holen aus ihrer Tasche ein Stück des Brotes hervor, das ihnen zu Mittag verabreicht worden ist und beginnen zu kauen. Von Zeit zu Zeit steht ein Bursche auf und langt nach der Wasserkanne, die auf einer Konsole steht. Dann gießt er sich Wasser in einen Blechtopf, der mit einer Kette an die Wand befestigt ist. Mein Nachbar, der inzwischen erwacht ist, trinkt den Topf viermal leer. Dann wischt er sich den Mund ab und sagt: „Brr, wenn ich nur heute vier Kreuzer auftreiben könnte. So ein Gläschen Kornschnaps könnte nichts schaden.“
Der Bursch mit dem roten Scarf hat andere Gelüste. Er steckt sich eine halbe „Drama“ in den Mund und entfernt sich mit einem Schnalzen aus der Wärmestube: „Jetzt wird fein geraucht.“ Nach fünf Minuten ist er wieder da.
Um halb 6 Uhr vergattern sich die Leute, die in das Nachtasyl schlafen gehen und verlassen das Lokal. Für die Zurückbleibenden gibt es nur einen Gesprächsstoff: das Nachtquartier. Der Eine rühmt sich, daß ihm seine Geliebte heute Obdach gewähren werde, der Andere weiß sich eine feine Scheuer in der Nähe des Baumgartens, ein Dritter erzählt von einem angenehm warmen Ziegelofen in Koschiř.
„Du meinst die Ziegelei Kudela?“ wird er gefragt.
„Das weiß ich nicht. Ich schlafe schon seit vier Jahren im Winter dort, aber ich weiß gar nicht wie die Ziegelei heißt.“
Um sechs Uhr rasselt der kleine blonde Mann, der durch eine blaue Schürze, einen sauberen Anzug und ein Käppi als der Aufsichtsmann der Wärmestube kenntlich ist und der bislang ruhig an einer Ecke der Bank gesessen ist, ostentativ mit einem Schlüsselbund. Das ist die Mahnung zum Aufbruch. Alles steht auf, jeder geht noch zum Ofen, als ob er etwas Wärme als Wegzehrung mitnehmen wollte. Dann geht es hinaus. Hinter uns wird die Türe gesperrt. Der Schlafbursche der Ziegelei wendet sich auf dem Korridor an mich.
„Komm’ mit mir nach Koschiř schlafen.“
„Warum denn? Bist du dort allein?“
„Allein! Es sind gewöhnlich vierzig dort. Größtenteils Drahtbinder.“
„Also weshalb willst du, daß ich mitgehe?“
„Na, der Weg ist weit, und zu zweit geht sichs besser. Komm’ mit!“
„Ein andermal. Heute werde ich noch bei einem Freunde schlafen.“