Ich kam an eine Insel, darüber flutete ein warmes Abendrot, und ein Rauschen, ein bedeutsames Raunen zog durch die Wipfel der hohen, stillen Bäume, als spräche mein Märchen zu mir aus tausend Zungen. Bunte Blumen standen auf der Insel, die sie die »Schöne« nannten, und sahen mit stillen Augen zu den Sternen auf, die ganz zart und licht am Abendhimmel aufleuchteten, wie die ersten Liebesgedanken in einer weichen Mädchenseele. Leise glucksten kleine lustige Wellchen gegen das Ufer, als lachten sie über die Wassernixen, die mit ihren weißen Entenfüßchen das Ufer heranklimmen wollten und immer wieder ins laue Wasser plumpsten. Wie nah', wie nah' war mir mein Märchen! Ich fühlte es mich umwehn – aber als ich danach haschte, sah es mich mit tiefen Augen spottend an, und ich griff in die Luft.
Danach sah ich mein Märchen wieder in einem Krankenzimmer; da saß es tief verborgen in dem großen weißen Kelch einer Lilie. Aus deren sammetigen, weißen Blütenblättern lagen rote Tropfen, als habe das Märchen blutige Thränen geweint, und es sah mit himmlisch klaren Augen in die Weite. Wie ein Hauch flog es durch das Gemach: »Hier kannst Du mich nicht halten, da würde ich vergehen vor Traurigkeit« – – und husch! wie ein Flügelschlag – da war's aus dem Fenster, und die Menschen um mich sahen sich fragend an: Was war das?
Eines Morgens, ganz, ganz früh, als die Nacht auf ihrem Lager flehend die Arme hob, den leuchtenden, ihr entfliehenden Tag zu halten, da erwachte ich und sah etwas Weißes, Flüchtiges von meiner Seite davonschweben. Und es umgab mich ein leises Klingen, und Worte tönten – war's in mir? war's um mich? – Horch:
Die Nacht, als ich geschlafen hab',
Da lag das Glück bei mir;
Im Morgenschimmer sah ich nur
Entfliehn die weiße Zier.
Es lächelt, nickt und winkt mir zu:
»Du hast es nicht gewußt,
Daß schlummernd ich mein Köpfchen hab'
Gelegt auf Deine Brust;
Wärst Du erwacht, hätt'st mich gefaßt,
So wär's um mich geschehn –
Nur leis, nur heimlich darf das Glück
An Deiner Seite gehn.«
Nun hatten es viele gute Menschen gehört, daß ich mein Märchen nicht wieder finden könnte, und weil sie ein verloren gegangenes Märchen für etwas sehr Trauriges hielten – ganz anders als die in der Philisterstadt, die gar nicht recht wußten, was ein Märchen war – da wollten sie mir alle suchen helfen. Aber sie thaten es mit so viel Bewußtsein und Ueberlegung, daß das Märchen sich immer tiefer versteckte; und selbst der rauschige Weinduft, der ausgesandt wurde, nach ihm zu forschen, kehrte statt mit meinem lieblich plappernden Märchenkinde mit einem wolligen, miauenden Kätzchen zurück, das gar scharfe Krallen zeigte.