Vor knapp zwei Stunden hatte ein lauter Schuss die Stadt erschüttert. Die Tauben in der Umgebung waren vor Schreck davongeflogen. Doch statt eines schlimmen Verbrechens, hatte sich eine große Menschenmenge in Bewegung gesetzt. Eintausend Menschen wollten die 42 Kilometer lange Strecke des Marathon bewältigen.
»Ich bin gespannt, wie schnell Mama dieses Jahr sein wird.« Tochter Leonie war aufgeregt. Mit einer Trillerpfeife stand sie neben dem Zieltor und wartete gespannt auf das Eintreffen der ersten Läufer.
»Was meint ihr? Wird Mama dieses Jahr schneller sein als beim letzten Mal? Sie hat es sich so sehr gewünscht und auch ganz viel dafür trainiert.«
Leonie holte Mamas Handy aus ihrer Tasche und blätterte durch die letzten Trainingszeiten. »Die letzten Einheiten sehen gar nicht so schlecht aus. Wenn sie einen ganzen Marathon so schnell laufen kann wie einen halben, dann ist sie in knapp weniger als vier Stunden fertig. Das wäre ein riesiger Erfolg und sie würde sich wahnsinnig freuen. Das wäre dann sogar zwanzig Minuten weniger als letztes Jahr.«
Papa beugte sich herab. »Sie hat mir erzählt, dass sie sich einen guten Pacemaker besorgt hat. Das ist jemand, der die Strecke mit ihr läuft und das perfekte Tempo vorgibt, an das sie sich halten muss. Ich bin gespannt, ob das dann auch so klappt.«
Plötzlich wurde es laut. Jubelrufe waren zu hören. Offenbar kam der erste Läufer um die letzte Kurve und hielt nun auf die Ziellinie zu. Zwei Helfer hoben ein breites Papierband hoch, durch das er laufen sollte. Es konnte sich nur noch um wenige Sekunden handeln.
In den Lautsprechern im Zielbereich knackte es kurz. Dann ertönte eine Stimme.
»Na los, Leute. Ich viel euch hören. Jetzt wird angefeuert. Dort vorn kommt …« Der Sprecher brach ab, fing sich dann aber wieder. »Moment mal. Wo bleibt denn der Titelfavorit? Ich kann ihn nirgendwo sehen.«
Nun richtete das Publikum seine Augen auf die Strecke. Dort kam nicht, wie erwartet wurde, ein besonders schneller Mann gelaufen. Es war eine Frau, die völlig abgekämpft aussah. »Hilfe!« Sie sah von einer Seite zur Anderen. »Hilfe!« Ihre Stimme war nur noch ein erschöpftes, heiseres Krächzen. »Ich kann nicht mehr. Haltet es doch bitte auf.«
Leonie und Papa wären beinahe die Augen aus den Köpfen gefallen. Es war Mama, die gerade durch die Ziellinie lief. Nur wenige Schritte hinter ihr jubelte ein großes blaues Monster auf. Es grinste breit und versprühte sofort riesige Freude. Das Schild mit der Aufschrift Pacemaker ließ es fallen, griff sich sich Mama und setzte sie auf seine Schulter. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich nur laut genug brüllen muss, um dir Beine zu machen. Dann ist es egal, ob ich zu lieb aussehe.«
Mama hielt sich am Fell des Monster fest und hob ihre Faust zum Sieg in den Himmel. Niemals hätte sie zu glauben gewagt, alle anderen Läufer hinter sich zu lassen.