Anna saß am Fenster und sah nach draußen. Es schneite schon seit zwei Tagen ohne Pause. Der Schnee wurde mit jeder Stunde höher und ließ die Welt unter sich verschwinden, als hätte jemand eine riesige, weiße Decke über sie gelegt. Autos fuhren nur noch selten die Straße entlang. Es war einfach zu glatt. Dafür kamen umso mehr Kinder am Fenster vorbei. Sie waren auf dem Weg zur großen Schlittenwiese.
»Wenn ich doch bloß nach draußen könnte. Aber ich komme niemals durch den hohen Schnee.«, schimpfte sie verzweifelt vor sich hin und sah immer wieder an ihrem Rollstuhl hinab, in dem sie seit ihrer Geburt saß.
»Wenn das blöde Ding nicht wäre, könnte ich auch nach draußen und die Schneeflocken auf meinen Kopf fallen lassen.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür und der Kopf von Annas Papa kam zum Vorschein.
»Warum siehst du denn so traurig aus? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«
Anna wollte eigentlich gar nicht antworten. Aber dann schluckte sie den Kloß in ihrem Hals runter und tat es doch.
»Der Schnee da draußen ist so schön. Ich möchte auch mal darin spielen, wie es die anderen Kinder jeden Tag machen, aber mit dem Rollstuhl geht das einfach nicht. Ich komme nicht einmal richtig vorwärts, weil meine Reifen entweder im Schnee stecken bleiben oder rutschen.«
Dann schüttete sie Papa eine ganze Weile ihr Herz aus und weinte dabei dicke Tränen, bis es ihr wieder etwas besser ging.
»Ich werde mir etwas einfallen lassen.«, versprach Papa.
Als er Anna am Abend ins Bett gebracht hatte, nahm er den Rollstuhl mit aus dem Zimmer und grinste.
»Vielleicht hab ich eine Idee. Schlaf gut.«
Am nächsten Morgen konnte es Anna kaum erwarten, ihren Rollstuhl zu bekommen. Was hatte Papa wohl daran gemacht? Als er dann schließlich herein kam, fielen Anna fast die Augen aus dem Kopf.
»Hui, was ist denn damit passiert?«, fragte sie neugierig.
»Ich präsentiere!«, rief Papa.
»Das ist der Rollstuhl 2.0 mit eingebauter Winterausstattung.«
Er kniete sich auf den Boden und zeigte auf die Reifen, die er mit einem alten Gummireifen überzogen hatte, durch die er unzählige kurze Nägel gestochen hatte.
»Für mehr Sicherheit im Straßenverkehr verfügt er nun über Spikes, die nie mehr auf Schnee und Eis rutschen werden.«
Papa drehte den Rollstuhl ein wenig. Es kam das untere Ende eines Schneeschiebers zum Vorschein.
»Der Schnee ist zu hoch und ein Durchkommen auf dem Gehweg nicht mehr möglich? Das ist jetzt vorbei. Mit dem Schieber räumt der Rollstuhl nun selbstständig seinen Weg frei. Ein wenig der weißen Pracht lässt er allerdings liegen, damit die Spikes noch genug Halt finden.«
Anna wusste gar nicht, wie sie sich bedanken sollte. Ihr liefen Freudentränen über die Wangen und sie brachte ein verweintes »Danke, Papa.« heraus.
»Du bist einfach der Beste.«
Papa grinste noch immer.
»Papperlapp. Ich habe nur das getan, was jeder andere auch tun würde.«
Anna drückte Papa an sich und ließ sich dann in den Rollstuhl heben.
Nach dem Frühstück zog sich Anna ihre dicke Winterjacke an, Handschuhe an die Hände und setzte sich eine Pudelmütze auf den Kopf. Mit vor Freude strahlenden Augen öffnete sie die Tür, drückte den Gashebel ihres Rollstuhls nach vorn und rollte auf den schneebedeckten Gehweg hinaus.
»Juhuu, ist das toll hier draußen.«
Der Schieber vor ihren Füßen schob die weißen Massen zur Seite, während sich die Nägel an ihren Rädern tief in den restlichen Schnee bohrten.
In diesem Moment kamen ein paar Kinder mit ihren Schlitten an Annas Haus vorbei. Es waren Schüler aus ihrer Klasse.
»Hey, Anna. Wie cool ist das denn?«, fragte gleich einer von ihnen.
»Du kannst ja doch raus bei dem Wetter.«
»Jaaaa.«, strahlte Anna.
»Und ich kann noch was ganz anderes. Passt mal auf.«
Ein paar Minuten später fuhr Anna mit ihrem Rollstuhl zur Schlittenwiese und zog zwei Kinder mit ihren Schlitten hinter sich her.