Der Kartenmeister legte ein großes Blatt Papier auf seinen Zeichentisch, griff geübt zu einer Feder und tunkte sie in eines der Tintenfässer. Mit leichtem Schwung fuhr er über das Blatt und zog einen ersten Strich, der verdächtig nach der Küstenlinie des Südlands aussah.
Enterhäkchen beugte sich vor, versuchte einen Blick über seine Schulter zu erhaschen und war zunächst beeindruckt. Doch dann beschlich sie ein Verdacht. Noch ehe sie ihn aussprechen konnte, kam ihr Der Kartenmeister zuvor.
»Ich weiß, welche Frage dir gerade auf der Seele brennt. Aber bevor du wieder nur in ein Fettnäpfchen trittst und mir eine stellst, die ein Menschen mit Behinderung als Beleidigung oder als taktlos empfindet, könntest du mir das schwarze Tuch reichen, das dort an der Wand am Haken hängt.«
Enterhäkchen blieb wie angewurzelt stehen und wurde ein weiteres Mal rot im Gesicht. Wie machte er das nur? Konnte er etwa Gedanken lesen oder war seine Menschenkenntnis so überragend?«
Der Kartenmeister seufzte. »Paul, sei so gut und erfülle mir meinen Wunsch. Deine Freundin ist offenbar gerade nicht dazu in der Lage, weil sie unangenehm ertappt fühlt.«
Paul ging zur Wand, nahm das Tuch und übergab es.
»Das ist schon in Ordnung. Ich bin es gewohnt, dass Sehende mit meiner Blindheit nicht richtig umgehen können. Es ist nicht schön, aber ich weiß, dass es nicht böse gemeint ist. Du kannst dich wieder entspannen.«
Enterhäkchen atmete auf. Für diesen Satz war sie ihm unendlich dankbar. »Ich weiß gar nicht, warum ich plötzlich so bin. Bei Paul und dem Henker bin ich auch nicht so. Da nehme ich sehr viel mehr Rücksicht. Ich verspreche aber, dazu zu lernen.«
Der Kartenmeister legte sich das Tuch vor die Augen und verknotete es hinter seinem Kopf. »Holzbeine oder ein Rollstuhl fallen sofort ins Auge. Die kann nur ein Blinder übersehen. Dafür hören wir es aber. Erblindete Augen sieht man aber nicht immer auf den ersten Blick. Ich danke dir dafür, dass du dir Mühe geben möchtest. Wenn mehr Menschen so denken würden wie du, wäre die Welt um Einiges schöner.«
Wieder griff er nach seiner Feder und setzte seine Zeichnung fort. Seine Hand flog über das Papier. Mal zeichnete er eine Linie hier, dann eine dort. Land, Inseln, Untiefen, Riffe. Städte, Dörfer, kleine Siedlungen. Berge, Täler, tiefe Schluchten. Der Kartenmeister konnte die Karte nicht sehen, dafür schien er sie zu spüren. Außerdem wusste er ganz genau, wann er seine Feder wieder in das Tintenfass tauchen musste. Es kam nie dazu, dass sein Arbeitsgerät komplett leer lief.
»Es wird mich einige Stunden kosten, diese Karte für euch anzufertigen. Sollte es euch langweilig werden, mir dabei zuzuschauen, dann macht es euch gemütlich.« Auf sein Wort entstand eine Öffnung in der Leuchtturmwand, aus der eine gemütlich gepolsterte Sitzgruppe hervor kam.
»Wie lange brauchst du, bis so eine Karte fertig bist?«, fragte Paul.
»Das kann ich dir nicht beantworten. Ich habe kein Zeitgefühl und besitze keine Uhr. Ich zeichne, bis ich fertig bin. Ich kann euch nur Eines dazu sagen. Ein auffälliges Zeichen wird euch meinen letzten Strich ankündigen. Worum es sich dabei handelt, weiß ich nicht. Ich möchte auch nicht, dass ihr es mit verratet, wenn ihr es seht. Ich kann nur sagen, dass es jeder meiner Besucher gesehen hat.«
Die nächsten Stunden blieb der Kartenmeister still und arbeitete weiter. Die Karte wurde immer umfangreicher. Enterhäkchen hatte viele seiner Karten in der Schule bewundern dürfen, doch diese hier war einzigartig. So viele Details hatte sie noch auf keiner anderen gesehen.
Mit den Stunden verging auch der Tag. Langsam verschwand die Sonne hinter dem Horizont. »Ihr dürft gern das Licht einschalten, wenn es euch zu dunkel wird.«
»Woher weißt du, dass es Abend geworden ist, wenn du nichts sehen kannst? Enterhäkchen stand vor einem neuen Rätsel.
Der Kartenmeister unterbrach seine Arbeit und grinste sie an. »Die Sonne hat bis gerade eben auf mein Gesicht geschienen, jetzt kühlt meine Haut ab. Also wird es bald Nacht oder es sich dicke Wolken aufgezogen.« Und schon war er wieder in seine Aufgabe vertieft und ließ sich nicht weiter stören.
Irgendwann konnte man das Meer kaum noch vom Himmel unterscheiden. Da begann der Boden unter den Piratenfüßen zu vibrieren. Irgendwas geschah. Die gesamte Etage begann sich zu drehen und bewegte sich um ein paar Meter zur Seite. Der Arbeitstisch des Kartenmeisters wanderte vom Fenster weg und machte einer Bodenklappe Platz, aus der kurz danach das Licht des Leuchtturms wieder zum Vorschein kam.
»Bedeckt eure Augen oder schaut weg. Wenn die Lampe aufglüht, wird sie euch kurz blenden.«
Ein Lichtblitz flammte durch den Raum, dann wurde es wieder dunkler. Von nun an konnten sich vorbei fahrende Schiffe am Leuchtturm orientieren, um nicht vom Kurs abzukommen.
Enterhäkchen, die langsam unruhig wurde, stellte sich an das Fenster und sah sehnsüchtig hinaus auf das Meer. Sie wünschte sich, endlich wieder durch die Wellen zu segeln. Diese Untätigkeit gefiel ihr gar nicht. Sie wollte wieder etwas unternehmen, Abenteuer erleben und den Fisch und seine Flugschiffe zur Strecke bringen.
Während sie nach draußen sah, flammte im Himmel plötzlich ein großes Licht auf, als hätte eine Riese ein gigantisches Streichholz entzündet. Eine Weile blieb es dort oben hängen, doch dann setzte es sich in Bewegung, stürzte herab, landete im Meer und erlosch.
Der Kartenmeister ließ seine Feder fallen. Er streckte sich und gähnte laut.
»Die Karte ist fertig. Ich ein paar Minuten wird die Tinte der letzten Striche getrocknet sein. Dann könnt ihr sie falten und einstecken. Ich hoffe, dass sie euch hilft, euer Ziel zu finden und zu erreichen.«
»Kannst du uns zeigen, wo dieser Platz der Luftschiffe ist?« Enterhäkchen hatte sich mittlerweile über die Karte gebeugt und war bereits auf der Suche.
»Nein, das tut mir leid. Das ist mir nicht möglich. Ich kann die Karte nicht sehen, ich habe sie auch nicht im Kopf. Ich zeichne lediglich die Striche, die ich spüre. Sie stehen für mich aber in keinem Zusammenhang. Ich bin mir aber sicher, dass ihr euren Weg finden werdet.« Er übergab Enterhäkchen die Karte. Sie faltete sie vorsichtig und steckte sie in eine Tasche.
»Wir sind dir wirklich zu Dank verpflichtet. Was sind wir dir schuldig?« Deborah hatte bereits ihren kleinen Lederbeutel von ihrem Gürtel gelöst und geöffnet.
»Befreit die Welt von diesem Ungetüm. Das ist mir Lohn genug. Wenn es das Meer weiter bedroht, wird irgendwann niemand mehr meine Karten gebrauchen können, weil niemand mehr zur See fahren will.«
Enterhäkchen holte sich den Beutel, warf einen Blick hinein und drückte ihn dem Kartenmeister in die Hand. »Du hast es dir trotzdem verdient. Diese Karte war viel Arbeit und Arbeit muss entlohnt werden. Auch Künstler verrichten ehrliche und harte Arbeit.«
Der Kartenmeister nickte ihr dankbar zu. »Es wird Zeit für euren Aufbruch, wenn ihr mit den optimalen Gezeiten auslaufen wollt. Mein Werk ist getan, jetzt müsst ihr euch um euer Eigenes kümmern.«
Die Piraten verabschiedeten sich. Endlich hatten sie etwas, das ihnen helfen konnte. Die Hoffnung war groß. Nun mussten sie nur noch die Flugschiffe finden, auskundschaften und dann einen Plan entwickeln, mit dem sie sie übertölpeln konnten.
»Eine Frage habe ich noch.« Enterhäkchen wollte den Leuchtturm vorher nicht verlassen. »Wer bist du wirklich? Du bist nicht nur der Kartenmeister. Du bist auch Ben, der im Sailorman’s Hole hinter der Theke steht, oder?«
Er legte den Kopf schief, schien für einen Augenblick nachzudenken. »Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich bin der, der ich bin und kein anderer. Ich bin der blinde Kartenmeister. Einen anderen Namen und eine andere Aufgabe habe ich nicht.«
Enterhäkchen seufzte. Sie hatte es sich wirklich gewünscht, zumindest ein einziges Rätsel von diesem Mann und seinem Leuchtturm gelöst zu haben, doch das hatte sie nicht geschafft. In ihr war die Hoffnung geweckt worden, eines Tages hierher zurückkehren zu können. Dich insgeheim wusste sie bereits, dass es wohl nicht dazu kommen würde. Während sie mit ihren Müttern und Paul den Rückweg antrat, sah ihnen der blinde Mann noch eine Weile nach, zumindest hatte das Mädchen dieses Gefühl. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Der Kartenmeister hatte es im Verlauf des Tages immer wieder ganz klar und deutlich gesagt. Er hatte sein ganzes Leben lang kein Augenlicht besessen. Er konnte wohl nur spüren, wie sich die kleine Gruppe von seinem Leuchtturm entfernte und der Stadt entgegen lief.
»Gehen wir zurück zum Schiff.«, entschied Morgana. »Ich glaube, wir können alle eine Mütze voll Schlaf gebrauchen. Wir werden am Morgen auslaufen. Ich bin jetzt schon gespannt, wohin es uns verschlagen wird.«
Da konnten ihr die anderen Drei nur zustimmen. Sie waren endlich einen großen Schritt weiter gekommen.