»Verdammt nochmal!« Deborah, die normalerweise sehr besonnen und bedacht reagierte, war gerade dabei völlig auszuflippen. »Was hast du dir dabei gedacht? Du hast nicht nur das Schiff gefährdet, sondern auch die Leben der gesamten Mannschaft. Wie konntest du nur?«
Enterhäkchen war sich ihrer Schuld durchaus bewusst. Das Risiko war sehr hoch gewesen. »Ich musste ein Menschenleben retten. Außerdem kenne ich keine Steuerfrau und keinen Steuermann, der besser wäre als Pat.« Sie dachte kurz nach. Patricia war auch die einzige Steuerfrau, die sie überhaupt kannte, was aber nichts zur Sache tat. »Wir drei können ihr vertrauen. Sie macht ihre Sache gut und kennt Meer und Küsten wie ihre Westentasche.«
»Hey, ich trage gar keine Weste.«, rief Pat von der Brücke herunter. Und erntete dafür sofort drei böse Blicke.
»Du hättest alles kaputt machen können, was wir uns über Jahre hinweg aufgebaut haben.«
»Aber heißt es nicht, dass Piraten weder Tod noch Teufel fürchten? Sagt ihr mir das nicht immer wieder?«
Deborah hielt inne. Ihre Tochter hatte Recht. Wie sollte sie nun darauf reagieren. »Ich … ähm … also. Das ist etwas ganz anderes. Wir haben keine Furcht, aber wir setzen unser Schiff auch nicht einem unnötigen Risiko aus.«
»Die Mannschaft war sicher. Das Wasser ist flach genug, das Riff nah am Ufer. Jeder hätte sich retten können. Und außerdem ist Pat wirklich gut. Ich habe ihr befohlen, nur so nah heran zu kommen, wie sie es als erfahrene Steuerfrau vertreten kann. Sie durfte kein unnötiges Risiko eingehen.«
Enterhäkchens Mütter fühlten sich immer weiter in die Defensive gedrängt. Alles, was ihre Tochter sagte, hatte Hand und Fuß. Sie hatte sich offensichtlich in der Kürze der Zeit einen guten Plan überlegt, der dann auch noch funktioniert hatte. Für diese Einsatz hätte sie eigentlich ein Lob verdient. Aber würde man sie damit nicht zu öfteren Alleingängen animieren?
»Wir werden darüber noch einmal allein reden. Wir werden dir später sagen, wie wir dich für deinen Ungehorsam betrafen.«
»Sie hat unser Vertrauen missbraucht. Wie konnte sie das nur machen?« Deborah saß in der gemeinsamen Kajüte auf der Koje und hatte ihren Kopf in den Händen vergraben. »Sie ist gerade mal ein paar Tage an Bord und schon übernimmt sie das Kommando. Die Mannschaft folgt ihr auch noch. Das ist ein Akt der Meuterei. Ich weiß gar nicht, was wir mit ihr machen sollen? Sie ist noch so jung. Womit müssen wir denn rechnen, wenn sie längere Zeit bei uns ist und älter wird? Wird sie uns irgendwann über die Planke gehen lassen? Hätten wir sie doch nur noch ein wenig in der Stadt gelassen, damit sie mehr Manieren lernt und sich an Regeln hält.«
Morgana, die bis jetzt unruhig auf und ab gegangen war, setzte sich zu ihrer Frau und nahm sie in den Arm. »Das wird schon wieder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals gegen uns meutern würde. Wir sind eine Familie, lieben und respektieren einander. Sie hat es nur gut gemeint und einen Jungen vor dem Tod gerettet. Ihren Plan hat sie mit Pat und Nanuk abgesprochen. Eigentlich hat unser Töchterchen alles richtig gemacht. Ich hätte auch so gehandelt, wenn ich dich hätte retten müssen.« Sie drückte Deborah einen Kuss auf die Wange und trocknete ihre Tränen. »Sie ist halt unsere Tochter und kommt nach uns. Sie war zwar eine Weile in der Stadt, aber sie hat trotzdem von uns beiden mehr gelernt, als es die Schule hätte machen können.«
»Ja, ich weiß.«, antwortete Deborah mit ihrer verheulten Stimme lauter, als sie es eigentlich machen wollte. »Das ist ja gerade das Schlimme. Wir können sie doch nicht noch dafür loben, dass sie in ihrem jungen Alter schon so eine Initiative zeigt. Was soll aus ihr werden, wenn sie erwachsen ist?«
Morgana lachte. »Aus ihr wird wohl eines Tages die beste Freibeuterin, die das Meer jemals erlebt hat. Sie wird selbst uns damit in den Schatten stellen. Ich befürchte, sie wird sich schon sehr bald einen Namen machen und zur Legende werden.«
»Entweder das oder sie wird Kapitänin in der Schutzflotte und Piraten jagen.«
Dann mussten sie Beide lachen und den Kopf schütteln. Niemals würde ihr Enterhäkchen die Seiten wechseln. Einmal Piratin, immer Piratin.
»Was machen wir jetzt mit ihr? Wir können sie damit nicht durchkommen lassen. Sie muss bestraft werden. Sie muss wissen, dass ihre Handlungen und Entscheidungen immer Konsequenzen haben.«
Morgana grinste. »Ich glaube, ich habe da schon eine Idee. Vertrau mir.«
Die gesamte Mannschaft hatte sich an Deck versammelt und im Halbkreis aufgestellt. Ihnen gegenüber standen die beiden Kapitäninnen, Enterhäkchen und Paul.
»Wir stehen hier, um über die neuesten Ereignisse zu reden. Was da passiert ist, dass unsere Tochter das Kommando übernommen hat, ohne dies mit uns abzusprechen, ist unentschuldbar. Dass ist die Mannschaft ihr treu ergeben folgte, ist ein Akt der Meuterei.«
Morgana hörte bereits das Murmeln in der Mannschaft. Man war sich der Schuld durchaus bewusst.
»Wir haben lange und gründlich darüber beraten, wie es nun weiter geht und was die gerechte Strafe für dieses gemeinschaftliche Vergehen sein könnte.« Ihr strenger Blick wanderte von einem Augenpaar zum nächsten. Niemand hielt ihr stand. Jeder senkte den Kopf zu Boden.
»Wir können natürlich auch nicht die Tatsache ignorieren, dass unsere Tochter aus edlen Motiven gehandelt hat. Sie hat diesem Jungen Mann hier, Paul ist sein Name, das Leben gerettet. Ohne ihr schnelles, aber trotzdem gut überlegtes Handeln, wäre er vielleicht schon bald nicht mehr unter den Lebenden. Für eine gute Sache hat sie das Kommando übernommen und ihr als Mannschaft habt ihr treu zur Seite gestanden.« Sie räusperte sich und sprach etwas leiser weiter. »Das habt ihr wirklich gut gemacht.«
Die Anspannung in der Mannschaft wich. Es war zu spüren, dass die Kapitäninnen stolz auf ihre Tochter und ihre Mannschaft waren.
»Trotzdem können wir nicht darüber hinweg gehen, dass sowohl unser eigen Fleisch und Blut, als auch unsere Mannschaft eigenmächtig gehandelt haben. Aus diesem Grund lautet die Strafe für euch alle wie folgt.«
Nun trat Deborah nach vorn und übernahm alles weitere. Theatralisch holte sie eine Schriftrolle aus der Tasche, entrollte sie langsam und las vor, was darauf geschrieben. Zumindest tat sie so. Denn das Lesen und Schreiben hatte sie nie gelernt, was alle Anwesenden natürlich ganz genau wussten. Trotzdem verlieh ihr diese Geste etwas Offizielles und Strenges.
»Wir werden heute wieder auf Kaperfahrt gehen. Das Kommando wird Enterhäkchen übernehmen. Sie soll beweisen, dass sie ein Schiff und eine Mannschaft führen kann. Ihr zur Seite werden Nanuk und Pat stehen, die sie mit Rat und Tat unterstützen sollen. Wir selbst werden als unbeteiligte Beobachter daneben stehen und nur im äußersten Notfall eingreifen. Danach wird unsere Tochter die Piratenseele zur Stadt führen, wo wir ihren neuen Freund zur ärztlichen Behandlung abliefern. Jetzt muss Enterhäkchen unter Beweis stellen, dass in ihr wirklich eine Piratin und Freibeuterin steckt.«
Jubel brach aus. Die Piraten warfen ihre Mützen in die Luft und fingen sie wieder auf. Enterhäkchen wurde knallrot im Gesicht. Sie hatte mit einer großen Strafe gerechnet, nicht mit einer als solche verpackten Belohnung.
»Ich werde mein Bestes geben. Fest versprochen.«
Morgana beugte sich zu ihr runter. »Ich werde mit nichts anderem rechnen. Zeig uns, dass du es drauf hast, mein Goldstück.«
»Wir werden die Kaperfahrt noch etwas verschieben.«, entschied Enterhäkchen und sorgte damit für eine Überraschung bei der Mannschaft »Wir werden zuerst zur Stadt fahren und Paul dort abliefern. Sein Bein ist sehr krank und die nötige Behandlung darf nicht weiter aufgeschoben werden. Wir müssen jetzt alles tun, damit wir ihn retten können.«
Morgana und Deborah, die mittlerweile hinter ihr standen, nickten sich kaum merklich zu. Sie hatten mit nichts anderem gerechnet und waren stolz auf ihre Tochter, dass sie die Sicherheit und Gesundheit eines Mannschaftsmitglieds einer Kaperfahrt vorzog. So verdiente man sich den Respekt seiner Leute.
»Lichtet den Anker, setzt die Segel. Wir verlassen endlich diesen Ort.«
Die beiden Kinder schenkten dem kleinen Ort keinen weiteren Gedanken. Ihre Blicke waren nach vorn in die Zukunft gerichtet. Jetzt konnte endlich alles gut werden.
Paul, der wegen seiner Schmerzen auf der Kiste auf der Brücke Platz genommen hatte, griff nach Enterhäkchens Hand und zog sie zu sich. »Danke, dass du mich da raus geholt hast. Das werde ich dir nie vergessen. Ich werde dir für meine Rettung auf ewig dankbar sein. Ich werde für immer in deiner Schuld stehen und von nun an neben dir an deiner Seite stehen. Ich werde sogar für dich kämpfen, wenn es sein muss.«
Enterhäkchen lächelte. Ihre Wangen lief rot an. So etwas Schönes hatte sie noch von Niemandem zu hören bekommen, den sie gerade erst kennengelernt hatte.
»Ist schon in Ordnung. Du hättest an meiner Stelle bestimmt das Selbe für mich getan und mich dort raus geholt.«
Paul schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht. Ich hatte mich längst aufgegeben. Ich wusste, dass ich in der Schmiede zu Grunde gehen würde und hatte es bereits akzeptiert. Ich habe nur noch auf meinen Tod gewartet.«
Er zog das Hosenbein hoch. Seine Wunde sah grauenhaft aus. »Das da lässt sich nicht verleugnen. Glaubst du etwa, ich wusste nicht, wie es um mich steht? Wahrscheinlich wäre ich in ein paar Tagen an einer Blutvergiftung gestorben. Es würde mich wundern, wenn ich das Bein nicht verliere und für den Rest meines Lebens durch die Gegend humpeln muss.«
Enterhäkchen kniete sich vor ihn und zog das Hosenbein sanft wieder herunter. »Sag so etwas nicht. Wir kennen in der Stadt einen wirklich guten Arzt. Er wird dein Bein schon retten.«
Sie machte nicht nur Paul, sondern auch sich selbst Mut. Sie wusste nur zu gut, wie es um ihn stand und bangte auch um den Verlust des Beins.
»Komm mit mir unter Deck. Die Mannschaft wird auch ohne mich eine Weile auskommen. Ich werde jetzt erstmal deine Wunde reinigen und versorgen. Danach geht es dir bestimmt schon wieder etwas besser.«
Sie nahm Paul an die Hand, half ihm hoch und zog ihn langsam hinter sich her.