Als der Morgen langsam wieder graute und die Sonne sich anschickte, hinter dem Horizont hervor zu kommen und den Himmel zu erklimmen, saß die Mannschaft der Piratenseele wieder in ihren Schaluppen. Nach einer langen, ausgelassenen Nacht war sie wieder auf dem Weg zum Schiff. Enterhäkchen saß auf ihrem Platz, gab ihren Leuten die nötigen Kommandos und grinste jetzt wieder über das ganze Gesicht, weil ihre erste Piratenbeute auf ihrer Schulter saß. Der Papagei Krächzer hatte sie als seine neue Herrin sofort anerkannt und würde ihr nie wieder von der Seite weichen. Und trotzdem sah sie auch mit einem weinenden Auge zurück zum Land. Der Junge, Paul, den sie dort kennengelernt hatte, tat ihr so unglaublich leid. Nur zu gern hätte sie ihn mit an Bord genommen.
Trotz des fehlenden Schlafs, ruderte die Mannschaft so kräftig, als hätte sie die Nacht artig in in Kojen verbracht. Es dauerte nicht lange, bis sie die Piratenseele erreicht hatten. Enterhäkchen kletterte als Erste an Bord und sah dabei zu, wie ihre Seeleute die Schaluppen mit Seilen nach oben zogen und fest machten.
Sie selbst setzte sich auf die Reling und sah wehmütig zurück. Würde sie Paul eines Tages wiedersehen? Nanuk gesellte sich zu ihr, suchte in der Ferne, was Enterhäkchen im Auge behielt. »Hast du an Land etwas verloren oder ungern zurück lassen müssen?«
Sie schüttelte den Kopf, hielt kurz inne und nickte dann kaum merklich. »Ich konnte nicht anders, weil mir die Möglichkeiten gefehlt haben. Wenn ich könnte, würde ich jetzt anders entscheiden als gestern. Kannst du mir vielleicht ein Fernrohr besorgen? Ich will noch einmal nach dem Rechten schauen.«
Nanuk verbeugte sich, als hätte er einen Befehl von einer seiner Kapitäninnen bekommen und kam ein paar Minuten später mit dem gewünschten Objekt zurück. »Lass dir damit Zeit. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Matrosen an Bord sind und der Proviant verstaut wurde. Ich bin mir sicher, dass wir frühestens in einer Stunde ablegen werden. Vielleicht kannst du bis dahin deine Angelegenheiten regeln.«
Er ließ das Mädchen allein, die nun angestrengt das Ufer absuchte. Das Fernrohr ging hin und her. Es war gar nicht so einfach, überhaupt etwas damit zu finden. Enterhäkchen hatte noch keine Erfahrung im Umgang damit. Doch dann geriet die Schmiede in den Fokus.
Die große Tür stand offen. So bekamen der Schmied und seine Gehilfen genügend frische Luft, um in der Hitze nicht ohnmächtig zu werden. Viel war auf die Entfernung nicht zu erkennen. Ein paar Schatten, die vielleicht Personen waren, das Feuer unter der Schmiede.
»Du kannst das Fernrohr übrigens noch ein Stück auseinander ziehen. Dann wird alles größer. Vielleicht siehst du dann noch etwas mehr.«
Nanuk stand nun wieder grinsend hinter ihr. Enterhäkchen zog das Rohr langsam auseinander. Tatsächlich schien die Schmiede näher zu kommen. Nun konnte sie einzelne Personen unterscheiden. Sie sah den großen Schmied, wie er seinen schweren Hammer immer wieder auf ein noch unfertiges Schwert niedergehen ließ. Daneben seine faulen Gehilfen, die in einer Ecke herum lungerten und tranken, statt zu arbeiten. Der Einzige, der wirklich hart schuftete, war Paul, der ein uns andere Mal Holzscheite holte und ins Feuer warf. Er humpelte noch mehr als am Abend zuvor. Es schien ihm sichtlich schlechter zu gehen.
»Ich muss dich da raus holen.«, murmelte Enterhäkchen. »Irgendwie werde ich dich da auch heraus bekommen. Das verspreche ich dir. Und Piraten halten immer ihre Versprechen. Das kann ich dir schwören.« Sie drehte sich zu Nanuk um. »Können wir vielleicht noch einmal …?«
Er unterbrach sie in ihrer Frage mit einem breiten Grinsen und Nicken. »Wie ihr wünscht, meine Kommandantin. Wir fahren noch einmal zur Insel zurück.«
»Moment mal. Ich bin nicht die Kommandantin. Das sind Mama und Mami.«
Nanuk drehte seinen Kopf suchen hin und her. »Kannst du sie hier irgendwo sehen? Ich jedenfalls nicht. Ich glaube, sie sind noch an Land, um ein paar wichtige Geschäfte zu erledigen. Bis dahin hat selbstverständlich die zukünftige Kapitänin das Kommando.«
Um seine Worte zu unterstreichen, salutierte er und nahm das Mädchen von der Reling. »Und jetzt sag mir, wie ist dein Plan?«
Ein paar Minuten später wurde eine Schaluppe wieder zu Wasser gelassen. Nanuk saß an den Rudern, Enterhäkchen ihm gegenüber. Zu zweit fuhren sie zurück an Land.
»Und du willst das wirklich durchziehen?«, fragte er sie nicht zum ersten Mal? »Wenn wir erstmal dort sind, gibt es kein zurück mehr. Dann musst du es durchziehen und mit den Konsequenzen leben.«
Enterhäkchen schluckte schwer und umklammerte das Heft des Säbels, den sie von ihrem Begleiter bekommen hatte. »Wir machen es. Ich kann ihn nicht dort zurück lassen. Er würde sterben. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Der Schmied würde ihn freiwillig niemals zu einem Arzt bringen. Wir aber schon.«
Während sie ihr Boot am Steg fest machten, wurde von der Mannschaft der Piratenseele der Anker gelichtet und das Hauptsegel gehisst. Das Schiff setzte sich in Bewegung. Doch statt sich zu entfernen, steuerte es auf die Küste zu. Damit setzte die Mannschaft nicht nur die Piratenseele aufs Spiel, sondern auch ihre Leben. Die Untiefen und Riffe waren hier besonders gefährlich. Nur die besten Seeleute konnten hier überhaupt manövrieren, ohne Schiffbruch zu erleiden. An ein Umdrehen war praktisch kaum zu denken, da es nur sehr wenig Platz gab. Trotzdem wagten sie das Unmögliche.
»Jetzt geht es los.« Nanuk macht ein ernstes Gesicht. Er machte sich keine Sorgen. Er wusste, dass der Plan des Mädchens gut war und funktionieren würde. Er konzentrierte sich nur auf seine Aufgabe. Den kurzen Weg zur Schmiede marschierten sie in schnellen, kräftigen Schritten. Nanuk trat mit einem Stiefel gegen die mittlerweile geschlossene Türe und sorgte damit für eine große Überraschung.
Der Schmied fuhr erschrocken herum. »Was soll das? Wer wagt es?« Sein Blick fiel auf Enterhäkchen. »Ach, schau mal einer an. Da ist ja wieder diese kleine, unverschämte Göre, die meine Leute von der Arbeit abhält. Verschwinde oder willst du mir mein Geschäft endgültig ruinieren? Du hast Hinkebein schon genug dumme Ideen in den Kopf gesetzt.«
Paul ließ seine Holzscheite fallen und wurde knallrot im Gesicht. Er begann am ganzen Körper zu zittern. Er konnte nicht einschätzen, was nun alles passieren konnte. Musste er mit einer Strafe durch seinen Herrn rechnen?
»Verschwindet lieber schnell von hier.«, zischte er den Piraten zu. »Ich komme schon irgendwie klar. Ich habe es eh nicht besser verdient. Ich bin wirklich viel zu faul, wie er immer sagt.«
Enterhäkchen war aufgeregt. Sie bekam das Gefühl, sich völlig übernommen zu haben. Körpergröße und die breiten Schultern des Schmieds machten ihr Angst. Jetzt kam alles darauf an, dass ihr Plan wirklich gut war. Sie sah Paul streng an und hob langsam einen Finger an die Lippen. »Sei ruhig und misch dich nicht ein. Ich kümmere mich hier um alles.« Sie drehte sich zum Schmied um. »Du wirst ihn zu einem Arzt bringen, damit der ihm bei seinem Bein hilft. Es eilt. Er wird sonst gar nicht mehr für dich arbeiten können.«
Der Schmied war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm ein kleines, schmächtiges Mädchen Anweisungen gab. Er lachte laut auf und hielt sich seinen Bauch. Doch dann änderte sich seine Laune. Er packte seinen schweren Hammer und ging auf Enterhäkchen zu.
Morgana und Deborah kamen lachend aus dem Sailorman’s Hole. Die wenigen Waren, die sie noch an Bord gehabt hatten, waren nun zu barer Münze geworden und baumelten in einem Ledersack an Deborahs Gürtel.
»Das waren echt leichte Verhandlungen. Ich wünschte, es würde immer so einfach laufen. Jetzt freue ich mich wieder darauf, in See zu stehen. Ich traue diesem unbewegten Boden unter den Füßen nicht. Ich frage mich jedes Mal, wie die Landratten dabei schlafen können? Die haben wohl vergessen, wie schön es ist, wenn man als Säugling in der Wiege geschaukelt wird.«
Sie gingen vergnügt zum Ufer und wollten gerade ihre Schaluppe besteigen, als sie ihr Schiff in voller Fahrt auf sich zukommen sahen.
»Was zum Klabautermann geht da vor sich?«, fluchte Morgana. »Welcher Idiot ist denn auf diese hirnrissige Idee gekommen? Den werde ich kielholen lassen.« Sie schluckte schwer. »Wenn dann von der Piratenseele und der Mannschaft noch etwas übrig ist.«
Sie liefen schnell auf den Steg und winkten verzweifelt. Sahen ihre Leute denn nicht, dass sie gegen jede Vernunft verstießen?
Enterhäkchen zog langsam ihren Säbel aus der Scheide, ließ die Klinge im Licht des Schmiedefeuers aufblitzen und hob die Spitze ihrer Waffe dem Schmied entgegen.
»Du machst mir keine Angst. Warum sollte ich mich vor einem kleinen Mädchen fürchten?« Der Schmied kam immer näher und hob den schweren Hammer über seinen Kopf. Er hatte sich fest vorgenommen, Enterhäkchen zu zerschmettern.
»Mich wirst du mit Leichtigkeit besiegen, da bin ich mir ganz sicher.«, sagte sie zwar mit einem leichten Zittern, trotzdem einer scharfen, leisen Stimme.
Der Schmied hielt inne. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Er sah zu Nanuk, der zwar ein ganzes Stück älter als er selbst war, aber trotzdem eine nicht zu unterschätzende Körper- und Muskelmasse aufzuweisen hatte.
»Ich bin leicht zu besiegen.«, wiederholte Enterhäkchen. »Aber meine Mannschaft wird dich bis aufs Messer bekämpfen, wenn du mir auch nur ein Haar krümmst.«
Sie machte einen Schritt zurück, stieß das zweite, bisher verschlossene Tor auf und gab damit den Blick auf das Meer frei. Dort stand inzwischen die Piratenseele, deren Kanonen auf die Schmiede gerichtet waren.
Dem Schmied klappte der Unterkiefer herunter. Der schwere Hammer rutschte ihm aus der Hand und knallte auf seinen Fuß. Man konnte hören, wie mehrere Knochen brachen.
»Das solltest du von einem Arzt behandeln lassen, sonst geht es dir bald so schlecht wie Paul, den ich jetzt mitnehmen werde.« Sie winkte den Jungen zu sich, der sofort auf sie zu gehumpelt kam. »Jetzt bringe ich dich zu einem Arzt und dann kommst du mit an Bord. Du wirst nie wieder für diesen Sklaventreiber arbeiten müssen.«
Der Schmied, dessen Gesicht stark vom Schmerz verzehrt war, hüpfte auf einem Bein den Kindern nach. »Ich werde mich dafür rächen. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich euch zur Strecke gebracht habe. Niemand stiehlt mir meinen Besitz.«