Es waren ein paar Tage vergangen, die die Mannschaft der Piratenseele in der Inselbucht verbracht hatte. Doch die Ruhe und die Entspannung am Strand und die Verrichtung von Arbeiten an Schiff und Ausrüstung, für die sonst keine Zeit waren, halfen nicht dabei, den Schrecken zu verarbeiten, den der riesige Fisch verursacht hatte. Unter diesen Voraussetzungen konnte es mehr als nur gefährlich werden, einen weiteren Überfall zu starten. Die Piraten könnten in ihrer Unkonzentriertheit tödliche Fehler begehen.
»Wir müssen mal was anderes sehen.«, schlug Deborah in der Familienkajüte vor. Wir waren schon eine ganze Weile nicht mehr irgendwo, um die Sau rauszulassen.« Sie grinste ihre Frau an. »Was hältst du davon, wenn wir mal wieder ins Sailorman’s Hole fahren?«
Morgana verzog das Gesicht.
»Bitte, bitte, bitte. Du weißt doch, wie gern ich dort bin.«
Morgana wollte die Idee einfach nicht schmecken. »Du wirst dich doch sicher erinnern, dass ich mich an unseren letzten Besuch kaum noch erinnern kann. Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen müssen.«
»Was bedeutet eigentlich Sailorman’s Hole?«, fragte Enterhäkchen. »Was ist das?«
»Das ist Englisch und heißt Seglerloch. Keine Ahnung, woher der Name stammt. Aber die Feste, die wir dort gefeiert haben, sind legendär. Von denen wird man sich noch in Generationen erzählen.« Sie sah Morgana an und zwinkerte. »Mit Ausnahme deiner Mama. Sie hat sich beim letzten Mal so abgeschossen, dass sie bis heute nicht mehr weiß, was alles passiert ist und was sie alles angestellt hat. Sie verträgt einfach keinen Alkohol. Man erzählt sich aber hinter vorgehaltener Hand, dass sie auf den Tisch getanzt und an den Kronleuchtern hin und her geschaukelt hat.«
»Halt den Mund.«
»Wir haben sie in dieser Nacht nach Hause tragen müssen.«
»Halt den Mund!«
»Sie wäre beinahe von der Planke gerutscht und ins Hafenbecken gestürzt.«
»Ich habe gesagt, du sollst den Mund halten.« Morgana war richtig laut geworden. Ihr Gesicht leuchtete tief rot. »Das sind keine Geschichten für unsere Tochter. Ich möchte nicht, dass sie falsch von uns denkt. Das sind alle Dinge aus unserer Vergangenheit, die es heute nicht mehr geben wird. Außerdem ist das Sailorman’s Hole nicht der geeignete Ort, wo sich Kinder aufhalten sollten.«
Deborah hatte noch immer nicht aufgehört zu grinsen. »Erinnerst du dich noch an unseren ersten Besuch dort? Unsere Eltern hatten uns dort hin mitgenommen und wir zwei haben uns kennengelernt. Wie alt warst du da noch und wie alt war ich?«
Morganas Blick verdunkelte sich. »Ich war zehn und du warst elf.«, presste sie kaum hörbar durch ihren Lippen.
»Danach waren wir beste Freundinnen.«, triumphierte Deborah. »Enterhäkchen kommt mit. Sie ist jetzt eine echte Piratin. Sie wird nirgendwo ausgeschlossen.« Sie musterte ihre Tochter. »Der Wein ist für mich. Du bekommst einen Traubensaft.«
Sie hatten bis nach Sonnenuntergang gewartet und waren dann erst im Schutz der Dunkelheit in See gestochen. Auf der kürzesten Route waren zum Festland gefahren und waren von dort aus immer in Küstennähe geblieben, bis sie ein kleines, verschlafen wirkendes Piratennest erreicht hatten.
Wegen des fehlenden Hafens lagen die Schiffe, drei waren es bereits an der Zahl vor dem Ufer. Die Mannschaften hatten ihre Schaluppen zu Wasser gelassen und waren zum großzügig gebauten Steg gerudert. Diesen Weg hatten nun auch die Piraten der Piratenseele eingeschlagen. Enterhäkchen hatte am Heck eines Bootes Platz genommen und durfte das erste Mal das Kommando übernehmen, was den ihr anvertrauten Männern und Frauen sichtlich Spaß machte.
»Du wirst eines Tages eine prima Kapitänin abgeben.«, lobte Nanuk, der ihr immer wieder schlaue Tipps ins Ohr flüsterte, wie sie mit der Mannschaft umgehen sollte. »Wir müssen dann wohl nur noch deine Mütter davon überzeugen, für dich irgendwann den Platz auf der Brücke zu räumen.
»Nichts da. Wir werden das perfekte Dreierteam. Man wird uns auf allen Weltmeeren fürchten.« Sie lachte laut und hielt sich den Bauch.
Minuten später legten sie an. Die Ruderer machten die Schaluppen fest. Dann ging es in das Sailorman‘s Hole. Als sie vor dem Eingang standen, bekam Enterhäkchen zumindest einen kleinen Eindruck, woher der Name stammte. Der Rahmen der großen, schweren Holztür war wie ein tiefes Loch gestaltet worden und flößte jemandem, der zum ersten Mal hierher kam, gehörigen Respekt ein.
Morgana und Deborah hatten ihre Argen gegenseitig eingehakt und traten als Erste ein. Die lauten Schritte ihrer schweren Stiefel waren noch in der hintersten Ecke der Spelunke zu hören und zogen die Blicke sofort auf sich. Etwas hinter ihnen folgte der Rest der Mannschaft.
»Ja, sag mal, träume ich etwa?«, rief ihnen der große Mann mit den breiten Schultern entgegen, der gerade hinter der langen Theke Gläser spülte. »Spielen mir meine alten Augen einen Streich oder seid ihr es tatsächlich? Ich glaube mir rollt gleich ein Tränchen der Rührung die Wange runter.«
»Du bist und bleibst ein alter Weichkeks, Ben. Aber wir haben dich auch vermisst. Lebt dein alter Weggefährte auch noch oder hat er sich durch den Tod vor dir in Sicherheit gebracht?« Morgana sah sich suchend um und erspähte schnell den roten Papageien, der auf einen Fingerzeig des Barkeepers zu ihm geflogen kam und auf dessen Schulter Platz nahm.
»Krächzer ist nicht tot zu kriegen. Ich werde die Welt wohl vor ihm verlassen müssen.«
Die Mannschaft verteilte sich an den vielen Tischen. Schon bald wurden große Bierkrüge und Weinflaschen verteilt. Die Laune stieg merklich an. Die Erinnerungen an den gefräßigen Riesenfisch verblassten allmählich.
Während die Piraten in großen Schlucken tranken, genoss Enterhäkchen ihren süßen Traubensaft durch einen langen, gläsernen Strohhalm.
»Der Wirt hat einen Vogel.«, sagte sie beiläufig, dachte kurz über ihre eigenen Wort nach, sah Nanuk an und begann zeitgleich mit ihm zu lachen. »Ich hätte auch gern einen Papageien. Der könnte den ganzen Tag auf meiner Schulter sitzen und Blödsinn erzählen. Dann wäre ich noch mehr Piratin als ich es jetzt schon bin. Ich weiß nur leider nicht, wo ich ein zahmes Tier bekomme, ohne einen Wilden in der Natur einzufangen und ihn seiner Freiheit zu berauben.«
»Ach, mein Mädchen, du bist Piratin, wie du richtig erkannt hast. Du wirst dein Leben lang andere bestehlen. Was macht die Freiheit eines Vogels aus?«
Enterhäkchen schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wir stehlen aber nur wertvolle Schätze und Handelsgüter. Wir nehmen keine Gefangenen und machen diese zu Sklaven. Das will ich einem Wildtier auch nicht antun.«
Sie drehte sich zur Theke um und zeigte auf Ben. »Was meinst du? Ob er mir wohl seinen Krächzer überlassen würde?«
»Was? Der alte Ben? Wohl kaum. Auch wenn ich ihn immer nur über seinen Vogel schimpfen höre, er würde sich niemals von ihm trennen. Er soll ihn seit seiner Kindheit um sich haben.«
Nanuk kratzte sich nachdenklich am Kinn, bis sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. »Es sei denn, jemand fordert seine Ehre heraus. Dann kann er unmöglich widerstehen.« Er flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr. Dann stand Enterhäkchen auf, schlenderte zur Theke und setzte sich auf einen der Hocker.
»Hey! Wirt!«, rief sie so laut, dass es jeder im Raum hatte hören können. Sie konnte sich also der gesamten Aufmerksamkeit sicher sein.
»Einen tollen Vogel habt ihr da auf der Schulter sitzen. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass er mir sehr viel besser stehen würde als euch.«
Ben sah das vorlaute Mädchen für einen Moment ernst an. Dann begann er zu lachen. »Du bist ganz schön mutig, das muss ich dir lassen. Wenn du nicht die Tochter deiner Mütter wärst, würde ich dich achtkantig auf die Straße werfen. Über blutige Knie würdest du dich dann noch am Wenigsten ärgern.«
Enterhäkchen hielt seinem Blick stand. »Wie wäre es mit einem Spiel? Der Gewinner bekommt den Vogel.«
»Und was springt dabei für mich raus?«
»Wir zahlen dir die dreifache Zeche von dem, was unsere Leute hier und heute trinken.«
Die Piraten verstummten. Morgana stand auf. Ihr Gesicht wurde wieder rot. Ihr Blick verfinsterte sich. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich einschreite. Sie übertritt gerade deutlich eine Grenze.«
Deborah packte sie am Arm und zog sie zurück auf den Stuhl. »Lass sie ruhig machen. Ich glaube, unser Mädchen hat einen Plan. Schau dir nur mal ihre siegessichere Miene an. Sie hat etwas vor. Wir sollten ihr das nicht kaputt machen. Das sind ihre ersten Erfahrungen.«
Sie schaute noch einmal schnell in den Lederbeutel, den sie am Gürtel trug. Es waren genug Dublonen darin, um mehr als das Dreiache zahlen zu können. »Wenn sie sich eine blutige Nase holt, wird sie daraus lernen und es beim nächsten Mal besser machen. Wir können es ihr zur Not von ihrem ersten Anteil an der nächsten Beute abziehen.«
Morgana nickte widerwillig und setzte sich wieder hin. Ihre Tochter behielt ihre Tochter nun aber ganz genau im Auge.
»Wir entscheiden das im Armdrücken.« Ben zog den Ärmel am rechten Arm hoch, schlug seinen Ellbogen mit einem lauten Knall auf die Theke und ließ seine riesigen Muskeln spielen.«
»In Ordnung. Ich bin einverstanden.«
Nun war es Deborah, die aufstand. »Sie ist eindeutig verrückt geworden. Für so einen Unsinn werfe ich nicht unser schwer verdientes Geld aus dem Fenster.«
»Du bleibst hier.« Morgana hielt sie grinsend zurück. »Du hast selbst gesagt, sie habe einen Plan. Den will ich mir jetzt ganz in Ruhe anschauen.«
Enterhäkchen nickte Ben zu und zog ebenfalls ihren Ärmel hoch. Der Wirt grinste breit und freute sich bereits über das laute Klingeln in seiner Kasse. Doch dann hüpfte das Mädchen vom Hocker und setzte sich wieder an einen der Tische.
»Nanuk, du bist dran.«
Der große Smutje der Piratenseele stand auf. Der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich von einem Augenblick zum nächsten. Das Lächeln verschwand und wich einem grimmigen Bären.
»Moment!« Ben ahnte, dass der Wettstreit nicht gut für ihn ausgehen würde. Er hatte größten Respekt vor Nanuk und schon mehrfach gegen ihn verloren. Sein Name war nicht umsonst die Bezeichnung der Nordvölker für einen Eisbären. »Das war nicht abgemacht. Du bist meine Gegnerin.« Er winkte Enterhäkchen wieder zur Theke. Die aber blieb ganz ruhig sitzen.
»Ich habe dir vorgeschlagen, dass der Gewinner deinen Vogel bekommt. Es war nie die Rede davon, dass ich selbst gegen dich antreten werde.«
Nanuk setzte sich und ließ ebenfalls seinen Ellbogen auf die Theke krachen. »Es wird mir eine Ehre sein, meinen Gewinn der zukünftigen Kapitänin der Piratenseele zu überreichen.«
Die riesigen Hände der beiden Männer klatschten ineinander. Enterhäkchen gab das Startkommando. Laute Schreie der Anstrengung hallten durch den Raum. Es ging mal zur einen, dann zur anderen Seite. Nanuks Augen wurden immer größer, während Ben seine zu schmalen Schlitzen verengte. Der alte Smutje begann zu schwitzen. Es fehlten nur noch wenige Fingerbreit bis zu seiner Niederlage. Doch dann lachte er auf, drehte den Spieß mit Leichtigkeit um und drückte Bens Hand zur anderen Seite. Es krachte laut. Die Holzplatte der Theke bekam einen langen Riss. Der Kampf war vorbei.
»Du bist ein Verlierer.«, rief Krächzer laut. »Du bist ein Verlierer.«
»Ich habe es dir ja gleich gesagt, dass unsere Tochter einen guten Plan im Kopf hat.«, sagte Deborah grinsend.
»Das habe aber ich gesagt.«, antwortete Morgana mit einem noch sehr viel breiterem Grinsen.
Enterhäkchen stand auf und kam wieder zur Theke. »Es tut mir leid, dass ich dich mit einem Trick hereingelegt habe. Du darfst deinen Vogel behalten. Ich weiß, wie viel er dir bedeutet und wie lange ihr schon Gefährten seid.«
Ben war verblüfft. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet, aber auch sonst niemand in seiner Spelunke. Er nahm Krächzer von der Schulter und setzte ihn auf die des Mädchens.
»Es wird ihm eine Ehre sein, dich von nun an zu begleiten. Er wird sich schon darauf freuen, mit dir zusammen wilde Abenteuer zu erleben, statt in einer dunklen Spelunke mit einem alten Mann zu hausen.« Er zwinkerte. »Du hast ihn dir wirklich verdient. Wer den alten Ben über die Theke ziehen kann, hat den größten Respekt verdient. Und jetzt schmeiße ich eine Runde für alle, die noch Durst haben. Kommt her mit euren Krügen und lasst sie euch von mir wieder auffüllen. Wir haben hier eine großartige, zukünftige Piratenbraut zu feiern.«