Frederick Kochwein war ein friedliebender Mensch. Allerdings war er auch ein wenig sauertöpfisch. Erst in letzter Zeit. Das lag wohl an den Veränderungen, die in den vergangenen Wochen sein Umfeld in ungewohnter Weise verfremdet hatten.
Die Fußballweltmeisterschaft nahte. Es war keine einfache Fußballweltmeisterschaft mehr, sondern offenbar eine Fußballweltmeisterschaft ganz und gar nur für Deutschland. Schon allein daran störte sich Frederick Kochwein, der an sich friedliebende und leider auch bis zu einem gewissen Grad unsportliche Beamte im Amte für Abfallwirtschaft.
Nun war es aber so, dass man für diese deutscheste aller Fußballweltmeisterschaften eine Menge Gelder locker gemacht hatte, um die Begeisterung für dieses Großereignis bei allen Bürgern anzufachen. Fußball durfte sich nicht mehr nur in den Köpfen und Herzen der Fußballfans einnisten, nein, die Totale war gefragt, alle Köpfe und Herzen im Lande sollten nur noch 'Fußball' denken. Es sollte allerdings nach Tunlichkeit beim Denken bleiben, denn ein Spiel in einem Stadion anzuschauen oder gar dabei mitzuspielen, war nur einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung vorbehalten. Die übrige Bürgerschaft hatte sich, nun aufgestachelt zu nationaler Begeisterung, mit der Fußballweltmeisterschaft im Kleinen zu begnügen.
Um das Begnügen zu erleichtern, platzierte man allüberall den weiß-schwarzen Fußball. Mit ihm wurde die Fußball-Bratwurst genauso beworben, wie lange Kicker-Unterhosen und großformatige Farbfernsehgeräte. Der Fußball, ein Weiß-schwarz-Erlebnis auf allen Farbfernsehern der Nation!
Der Fußball, rund und ledrig, beherrschte aber nicht allein die täglichen Konsumgüter und die Stunden vor dem Fernsehgerät, sondern er war auch in die großzügig gesponserte Kunst eingewandert. Wie Pilze schossen allenthalben die seltsamsten Gebilde aus dem Boden und da wurden sie zum ganz besonderen Ärgernis für den Beamten Frederick Kochwein im Amte für Abfallwirtschaft.
Die für das Amt für Abfallwirtschaft arbeitenden Arbeiter und Abfallentsorger wussten manches Mal nicht, ob das, was sich da auf Plätzen und am Straßenrand auftürmte nun Abfall war, der entsorgt werden musste oder ob es sich um ein nächtlicherweile errichtetes Kunstwerk im Dienste der Fußballweltmeisterschaft handelte. Da riefen dann die Müllentsorger im Amte für Abfallwirtschaft an und fragten den friedliebenden, Frederick Kochwein, leider unbewandert in moderner Fußballkunst, was sie mit dem fraglichen Objekt tun sollten. Sie beschrieben es dem Frederick genau und da er zwar friedliebend aber nicht musisch und zudem unsportlich war, erkannte er nicht immer Sinn und Gestalt des Objektes als Kunst und musste die Entscheidung über Entsorgung oder Huldigung vertagen, bis er das fragliche Objekt selbst in Augenschein genommen hatte.
So geriet nun unser friedliebender Mitbürger immer mehr in Bedrängnis, die Entscheidungsnot war groß und er war allenthalben zu beobachten, wie er die Stadt durchstreifte und Kunstwerke von Abfall schied und sich so ein allumfassendes Bild von der kommenden, in Kunst gebetteten, Fußballweltmeisterschaft machte.
Wieder einmal lag ein solch aufreibender Tag hinter Frederick Kochwein, dem Beamten im Amte für Abfallwirtschaft. Dankbar sah er die Sonne hinter den Horizont wandern, rund und rot und - dem Himmel sei Dank! - nicht in weiß-schwarzer Musterung. Nur noch einige Berichte waren zu schreiben über die Belange des dahinscheidenden Tages, dann konnte sich der Beamte im Amte für Abfallwirtschaft auf den Heimweg machen.
Sorgsam knöpfte er seinen sandfarbenen Staubmantel über dem behäbigen Spitzbauch zu, zog sich wegen der kühlen Witterung ein wenig verschämt sein geliebtes altes Strickmützchen über die blanke Halbglatze und trat, vorsorglich den zusammengerollten Regenschirm in der Hand, hinaus in die hereinfallende Nacht. Wohlgemut schritt er aus und da ihn, nach der aufreibenden Entscheidungsschlacht des Tages, ein wenig dürstete, beschloss er kühn, sich vor seiner Heimkehr noch ein Glas Bier zu gönnen.
Erstaunlich leichtfüßig, gleich einem begnadeten Kicker auf dem Fußballfeld, ging Frederick nach dieser Entscheidung durch die dunkle Gasse hin zu seiner geliebten kleinen Bierwirtschaft, die bislang auf jede Form von Reklame für die Fußballweltmeisterschaft verzichtet hatte. Vor lauter Vorfreude und purer Lebenslust machte Frederick Kochwein immer wieder ein kleines Hüpferchen, einen flotten Wechselschritt, mal links und mal rechts, und die Schöße seines sandfarbenen Staubmantels flatterten dabei ungebührlich zur Seite und gaben den Blick auf den abgeschabten grauen Dienstanzug des Beamten im Amte für Abfallwirtschaft frei. So gelangte er flott und zügig durch die düstere Gasse und schon sah er das einladende Schild des 'Biersüffels' in sanftem Lichte schimmern. Da gewahrte er mitten auf der für den Durchgangsverkehr gesperrten Straße ein Objekt. Ein rundes Objekt in Weiß-schwarz.
Augenblicklich war die beschwingte Vorfreude auf ein fußballfreies Glas Bier erstorben und obgleich Frederick Kochwein, der Beamte im Amte für Abfallwirtschaft friedliebend, wenn auch nicht sportlich war, stieg eine Welle heißer Empörung in ihm auf. Den alten Fußball so mitten auf der Straße liegen zu lassen, das war ein zweifacher Frevel, einer gegen seine Abneigung der permanenten Fußballweltmeisterschaftsreklame ebenso wie einer gegen die Gesetze der Abfallentsorgung. Das war zuviel für das täglich durch Fußbälle aller Art stark strapazierte Gemüt des Frederick.
Aus unergründlichen Tiefen seines Gemüts stieg der Wunsch empor, den Ball einfach wütend von der Straße zu kicken, anstatt ihn, wie es eigentlich seiner Art entspräche, aufzuheben und in einen Abfallkorb zu werfen. Der ansonsten friedliebende Beamte hob das rechte Bein in seinem sorgsam geputzten braunen Schnürschuh an. Er schwang es, leicht behindert durch den zugeknöpften sandfarbenen Staubmantel, nach hinten. Gleichzeitig machte er einen kleinen Hupfer auf dem linken Bein, um das Gleichgewicht zu halten und um Schwung zu holen und dann stieß er den Fuß im braunen Schnürschuh aus weichem Leder mit großer Wucht nach vorne. Er traf den widerrechtlich mitten auf der für den Durchgangsverkehr gesperrten Straße liegenden Fußball akkurat an seiner dicksten Stelle.
Auf seinen tierischen Schrei hin stürzten die Gäste des 'Biersüffels' zusammen mit dem Wirt in heller Aufregung aus dem Lokal. Sie sahen den ihnen allen bekannten friedliebenden Frederick Kochwein in sich verkrümmt und wimmernd auf dem Asphalt liegen, den zusammengerollten Regenschirm in der linken, mit der Rechten aber seinen rechten Fuß umklammernd. Er lag direkt vor dem erst gestern errichteten Kunstwerk, einem mit Beton ausgegossenen Fußball, dessen Lederhaut nun eine Platzwunde zierte.
Während Frederick mit gebrochenen Zehen für seine unzeitgemäße Wut und den gekonnten Ansatz, einen Ball von der Straße zu kicken, büßen musste, drohte ihm obendrein eine Anzeige wegen mutwilliger Beschädigung eines Kunstwerkes.