Es ist spät in der Nacht. In den Nebenstraßen der kleinen Stadt ist das Leben nach dem Erlöschen der Straßenbeleuchtung hinter dunklen Fenstern eingeschlafen.
Nur eine schmale, graue Katze überquert auf samtigen Pfoten lautlos das stille Pflaster. Und in einem Haus an der Begoniengasse brennt in einem Fenster im dritten Stock noch ein kleines, einsames Licht.
Plötzlich bleibt die Katze mitten auf der Straße stehen. Nun legt sie sich nieder und dreht sich auf den Rücken, als ob eine unsichtbare Hand ihr weißes Bäuchlein kraulen würde. Ihr lautes Schnurren ist weitherum zu hören.
- So jetzt musst du weiter gehen - sagt eine leise, nur für Tierohren hörbare Stimme - es könnte auch um diese Zeit noch ein Auto kommen. - Die Katze steht wieder auf, streckt sich aber erst noch genüsslich, ehe sie auf die andere Straßenseite zusteuert. Er blickt seiner kleinen Freundin lächelnd nach, bis sie in den Schatten des Vorgärtchens verschwunden ist und setzt dann seinen Weg fort.
Jede Nacht wandert er um diese Zeit auf der einen Seite die Begoniengasse hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.
Niemand sieht ihn. Außer der Katze, die jede Nacht auf ihn wartet. Auch ein allfälliger Spätheimkehrer würde ihn nicht bemerken.
Eine Stunde zuvor war er in der Rosengasse. Und vor der Rosengasse in der Apfelbaumstraße. Er mag die Namen der Gassen und Straßen "seines" Quartiers. Im Sommer blühen in den kleinen Gärten und an den Fenstern tatsächlich Begonien und Rosen. Aber jetzt um diese Jahreszeit blüht nichts mehr in den Gärten. Und einen Apfelbaum würde man hier mitten in der Stadt natürlich auch im Sommer vergebens suchen.
Lautlos geht er weiter, blickt die Hauswände hinauf in die dunklen Fenster und lauscht mit feinen Ohren den leisen oder auch nicht so leisen Atemzügen der Schlafenden.
Er erkennt sie alle. Jeden einzelnen Seufzer, jedes Schnarchen. Er weiss, wer gerade einen schweren Traum hat, oder vielleicht wach in den Kissen liegt und mit weit geöffneten Augen gegen die Decke starrt.
Manchmal werden seine Schritte langsamer, und er schickt ein paar sanfte, tröstliche Gedanken durch die geöffneten oder auch geschlossenen Fenster.
Dann geht er wieder weiter. Lauschend. Wachend.
An diesem Abend aber bleibt er vor dem Haus mit der Nummer 32 stehen. Das einsame, kleine Licht im dritten Stock schickt seinen traurigen Schein in die Nacht hinaus.
Und aus dem nur einen Spalt weit geöffneten Fenster hört er mit seinen feinen Ohren ein dünnes, zitterndes Weinen.
Es ist nur eine leise Stimme. Und es ist keine Hoffnung darin, überhaupt von jemandem gehört zu werden.
Aber er hört es.
Noch in der letzten Nacht war die Wohnung im dritten Stock dieses Hauses leer gewesen. Während des vergangenen Tages müssen also neue Leute dort eingezogen sein.
Eine noch ziemlich junge Frau und ein kleines Mädchen.
Ein paar Augenblicke lang lauscht er den Atemzügen der schlafenden Mutter.
Nach der Aufregung des Umzugs wird sie wohl so müde gewesen sein, dass sie sofort nach dem Insbettgehen in einen tiefen Schlummer gesunken ist.
Aber das kleine Mädchen schläft nicht. Es weint.
Annina drückt ihren abgeschabten und geflickten Teddybären fest an sich.
Kurz, nachdem ihr die Mutter Gute Nacht gesagt hat und gleich darauf selbst ins Bett gegangen ist, hat sie das Licht auf dem Nachttisch wieder angezündet, weil sie diese fremde, schreckliche Dunkelheit in diesem fremden, schrecklichen Haus einfach nicht ertragen konnte. Es ist a l l e s so fremd und schrecklich hier. Die aufgestapelten Kisten, wo sie vor drei Tagen zusammen mit ihrer Mutter alle ihre Sachen hineingepackt hat, schauen gleichgültig aus dem Schatten des Halbdunkels zu ihr herüber.
Annina legt sich flach auf den Rücken und faltet die Hände über ihrem Teddy.
- Wenn ich jetzt die Augen zu mache, muss ich sie vielleicht nie mehr aufmachen - denkt sie. So wie bei Onkel Alfons. Der hat auch ausgesehen, als ob er schliefe, und alle haben gesagt, dass er nie mehr aufwachen würde.
Onkel Alfons.
- Warum bist du einfach weggegangen? Du hast mir doch versprochen, meinen Puppenwagen zu flicken. Und hast du nicht gewusst, dass wir aus deinem Haus ausziehen müssen, wenn du nicht mehr da bist? Wohin bist du denn gegangen?
Mama und Tante Elfie haben mir gesagt, dass du jetzt im Himmel bist. Aber Onkel Oskar hat dabei ziemlich ärgerlich ausgesehen und gemurmelt, sie sollen mir nicht solchen Blödsinn erzählen. Ja, das habe ich genau gesehen und gehört.
Also, wo bist du jetzt? Wenn ich doch nur wenigstens wüsste, dass es dir gut geht. - Das kleine Mädchen drückt die Augen fest zu, bis hinter ihren geschlossenen Lidern farbige Funken und Kreise zu tanzen beginnen.
Und dann spürt sie plötzlich, dass sie nicht mehr allein ist in ihrem Zimmer. Irgend jemand ist da hereingekommen, ohne, dass sich die Türe geöffnet oder dass sie Schritte gehört hätte. Wäre sie schon erwachsen gewesen, hätte sie in diesem Augenblick vielleicht Angst gehabt. Doch Annina ist noch ein kleines Mädchen, das in seinem Leben noch nicht viele Gründe gehabt hat, sich zu fürchten. Darum hat sie auch jetzt keine Angst. Nach einem ersten klitzekleinen Schrecken ist sie vor allem neugierig.
Trotzdem zögert sie das Öffnen der Augen noch ein bisschen hinaus. Sie versucht, den geheimnisvollen Besucher zu erraten ...
Aber es ist schwierig, etwas über jemand zu erraten, der keinen einzigen Muckser, nicht einmal den kleinsten Schnaufer von sich gibt.
Also öffnet Annina schließlich doch die Augen. Zuerst nur einen winzigen Spalt weit ... und dann schießt sie mit einem Ruck in die Höhe, und ihr kleines Herz tut einen heftigen, freudig entsetzten Sprung.
An ihrem Bett sitzt Onkel Alfons.
Oder jemand der so aussieht, wie Onkel Alfons - und doch auch wieder nicht.
Er hat genau so eine glänzende Glatze mit dem schmalen Kranz aus weißen Haaren, die in alle Richtungen abstehen. Aber diese Haare schimmern und glänzen, als wären sie leuchtende Weihnachtsfäden. Und überhaupt sieht es aus, als ob in ihm drin ein Licht angezündet wäre, das durch seine Haut, und sogar durch sein kariertes Hemd hindurch scheint. Vor allem aber leuchtet es aus seinen Augen. Sie sind kein bisschen mehr müde, diese Augen und auch gar nicht mehr so traurig, wie sie oft waren, wenn er glaubte, niemand sähe es.
Jetzt sind sie hell und klar, diese Augen, wie ein Stück Feriensommerhimmel.
Aber ist er es wirklich? Wenn sie es nur wüsste, dann würde sie dem Besucher sogleich um den Hals fallen, seinen Hals, der immer so fein nach Rasierwasser roch.
"Onkel Alfons bist du das?" fragt sie stattdessen zögernd und mit zitternder Stimme.
Das leuchtende Gesicht des Besuchers verzieht sich zu einem Lächeln, heller und strahlender, als alles, was Annina je in ihrem Leben gesehen hat.
- Ist das sein Name? Onkel Alfons? -
Merkwürdig, die Stimme kommt nicht von außen an ihr Ohr. Sie klingt irgendwie in ihr drin. Dort, wo ihr Herz aufgeregt hin und her und auf und ab zu hüpfen scheint.
Noch bevor sie die nächsten Fragen - wer bist du denn? Und wieso siehst du so aus wie er? - hat aussprechen können, hört sie bereits die Antwort, wieder nicht mit den Ohren, sondern in ihr drin.
- Ich habe sein Bild in deinem Herzen gesehen. Und es ist viel Sehnsucht und noch mehr Traurigkeit dabei. Er ist jemand, den du sehr lieb hast und nun sehr vermisst, nicht wahr? - Jetzt schießen Tränen in Anninas Augen. Wenn sie jetzt hätte reden müssen, hätte sie keinen Ton herausgebracht.
Aber der Fremde, der so aussieht, wie Onkel Alfons, versteht sie auch so.
- Macht es dir Freude, wenn du sein Bild durch mich wieder anschauen kannst?
Annina zuckt die Schultern und putzt sich die Nase.
"Weiss nicht", murmelt sie in ihr Taschentuch hinein, "viel lieber möchte ich, dass du wirklich - ich meine, dass er selbst ..." sie stottert und schaut dann den Fremden etwas ratlos an, "es ist ja schon nett von dir, dass du mich besuchen kommst. Es ist nur ... wenn ich dich anschaue, dann habe ich noch mehr Heimweh nach Onkel Alfons. Wenn ich doch nur wüsste, wo er ist. - Weißt du es vielleicht? Weißt du, ob er wirklich im Himmel ist?" Da ist es wieder, dieses strahlende Lächeln. Und in diesem Strahlen verblasst das Gesicht von Onkel Alfons, bis davon nur noch das Strahlen und Leuchten übrig bleibt.
Annina staunt. Sie staunt so sehr, dass sie ganz vergisst, zu erschrecken, oder sich zu fürchten.
"Du bist also nicht Onkel Alfons", sagt sie und muss die Augen zusammenkneifen vor dem Leuchten und Strahlen, "wer bist du denn? Bist du ein Geist?" Das Leuchten scheint sich zu schütteln und sprüht winzige kleine Funken. Ob ein Geist auf diese Weise den Kopf schüttelt? Oder lacht er?
- Ja und nein, kleines Fräulein - hört sie seine Antwort - ich bin kein Mensch, das hast du ja schon gemerkt - ich bin wohl eher so etwas wie ein Geist - Jetzt erschrickt Annina doch ein wenig.
- Nein, nein, nicht so, wie du meinst - Ich bin kein Gespenst - Ich bin ein Bote - ich bringe Botschaften - Nachrichten - Es ist gut, dass der Fremde ihre Gedanken hören kann, denn Anninas Stimme ist auf einmal so leise, dass niemand ihre Worte hätte verstehen können.
"Nachrichten? Du bringst Nachrichten? Etwa - von Onkel Alfons?" Jetzt scheint das Leuchten auf und nieder zu schwingen.
Aha - so nicken sie also. - Sie? Plötzlich weiss Annina, wer der geheimnisvolle Besucher an ihrem Bett ist - mit Nachdenken wäre sie nie im Leben darauf gekommen - aber ihr Herz weiss es, denn Herzen - vor allem Kinderherzen sind oft klüger als alle Gehirne zusammen.
Sie rutscht ein bisschen zurück. Nicht aus Angst, sondern um ihn besser sehen zu können.
"Du bist ein Engel, nicht wahr?"
Wieder schwingt das Leuchten sanft auf und nieder.
- Ja, kleines Fräulein, du hast es erraten. - Kleines Fräulein - so hat Onkel Alfons sie immer genannt. Schon wieder brennen Anninas Augen. Aber sie schluckt ihre Tränen tapfer hinunter.
"Wenn du ein Engel bist, dann weißt du doch sicher auch etwas von Onkel Alfons. Wie geht es ihm denn? Und ist er wirklich im Himmel?" - Deswegen bin ich hier, Annina. Ich soll dir Grüsse von ihm ausrichten. - "Grüsse?! Von Onkel Alfons?" - Ja, mein Kind, Grüsse von Onkel Alfons. - Jetzt platzt Annina fast vor Aufregung.
"So erzähl doch endlich. Wo ist er? Und was macht er?" Noch während Annina herumzappelt, sieht sie, wie ein Lichtstrahl, als wäre es ein Arm, sich nach ihr ausstreckt und sie fühlt sich auf eine unglaublich sanfte Weise berührt. Wie das Streicheln eines kühlen Sommerwindes.
- Nun leg dich erst einmal wieder hin, kleines Fräulein. Und schließe die Augen. So ist es recht. - Ja, deinem Onkel geht es gut. Er hat jetzt keine Schmerzen mehr. Weder in den Knien, noch in seinem Herzen. Jetzt ist er nämlich wieder mit seiner Frau zusammen, die er über alles liebt und die drüben schon lange auf ihn gewartet hat. - Tante Hulda. Annina kann sich nicht mehr an sie erinnern. Sie war noch klein, als Onkel Alfons' Frau gestorben ist. Aber er hat ein Foto von ihr auf dem Stubenbuffet stehen gehabt. Darauf sah man eine dicke Frau mit dicken Backen und einem lustigen Lachen. Onkel Alfons ist also wirklich im Himmel.
Seltsamerweise tröstet sie diese Vorstellung wenig. Der Himmel ist so weit weg. Onkel Alfons ist so weit weg. Aber Tante Hulda hätte doch sicher noch ein wenig länger auf ihren Mann warten können, dort im Himmel. Am liebsten würde sie selbst auch gleich dorthin gehen, in den Himmel. Wenn sie nur wüsste, wie das ginge.
- Nein, Kleines, für dich ist es noch viel zu früh, in den Himmel zu gehen.
Du wirst noch gebraucht im Land der Lebenden. Aber weißt du, so weit weg, wie du glaubst, ist der Ort, wo die Heimgegangenen auf euch warten, gar nicht entfernt. Für diejenigen, die sie lieb haben, ist er sogar ganz nahe.
Sie müssen nichts weiter tun, als sie in ihrem Herzen in Erinnerung zu behalten. Die Heimgegangenen wachen über die Zurückgebliebenen. Auch dein Onkel ist ganz nahe bei dir, und er passt auf dich auf, solange du das möchtest. Und wenn du schläfst, kann er dich in deinen Träumen besuchen und du kannst ihn sogar sehen.
Wahrscheinlich ist Annina irgendwann, während der Engel mit ihr sprach, tatsächlich eingeschlafen.
Sie öffnet die Augen ... und da sitzt er wirklich an ihrem Bett. Onkel Alfons!
Mit einem leisen Schrei schießt sie in die Höhe und kuschelt sich an seine karierte Brust.
Endlich! Endlich ist er wieder da. Für immer und ewig möchte sie so bleiben.
Nach einer Weile löst er behutsam ihre Arme von seinem Hals und schaut sie mit seinem lieben Lächeln an, das alle Runzeln in seinem Gesicht verschiebt.
"So mein kleines Fräulein ..." - er ist es wirklich, denn seine Stimme tönt nicht in ihr drin, wie die Stimme des Engels. Er redet wirklich mit ihr - "... es ist Zeit, dass du dich wieder auf den Weg machst. In die neue Schule.
Zu neuen Freundinnen und zu all den vielen, spannenden Dingen, die das Leben für dich bereithält. Auch ich erlebe jetzt viele neue und spannende Sachen.
Und am Abend, wenn du müde bist und schläfst, kannst du mich rufen und wir können einander erzählen."
Als Annina am nächsten Morgen aufsteht, hat sie einen Riesenhunger. Und darum verdrückt sie eine Riesenportion Corn flakes und dazu noch ein großes Konfibrot. Anninas Mutter zieht zuerst die Augenbrauen erstaunt in die Höhe, doch dann schickt sie einen erleichterten Seufzer wohin auch immer. Annina hat seit Wochen kaum etwas gegessen. Gott Lob und Dank - nun scheint das Schlimmste überstanden zu sein.
Dann machten sich die beiden bereit für den ersten Tag in der Stadt.
In der folgenden Nacht wandert der Engel wie immer die Begoniengasse hinauf und wieder hinunter. Und wie immer wartet die kleine graue Katze auf ihn und lässt sich den Bauch kraulen. Dann richtet er sich auf und geht weiter. Vor der Nummer 32 werden seine lautlosen Schritte etwas langsamer, und er blickt hoch zum dritten Stock. Auch hier sind alle Fenster dunkel.
Er hört, wie ein alter Mann und ein kleines Mädchen einander im Traumland ihre Erlebnisse erzählen.
Dann geht er weiter. Lauschend. Wachend.
Alle Häuser in der Begoniengasse und die Menschen, die darin wohnen, schlafen ... und träumen.