Vor vielen Jahren, als man noch mit Segelschiffen die Weltmeere bereiste um neue Länder zu entdecken, trug sich folgende Geschichte zu.
In einem abgelegenen Waldstück, mitten im Harz, lebte Rudi Maus. Er war das jüngste von neun Kindern und wuchs gut behütet von seinen Eltern in seiner kleinen Welt auf. Seine Eltern lehrten ihn alles, was man so in einem Mäuseleben wissen muss: Löcher graben, leckere Beeren finden, vor der Katze verstecken und auch, sich bei Nacht vor der lautlosen Eule in Acht zu nehmen.
Kurzum, er verlebte eine erfüllte und lehrreiche Kindheit.
Eines Tages, er hatte gerade einen Ausflug mit seinen Eltern und Geschwistern gemacht, kamen sie auf dem Rückweg zu ihrem Nest an einen Bach. Das heißt, gestern war es wohl noch ein Bach, jetzt hatte er sich durch das Gewitter von heute morgen in einen reißenden Strom verwandelt.
Nach einigem Suchen fanden seine Eltern einen Ast, der über den Bach reichte. Sein Vater überlegte, ob man es mit den Kindern wagen könnte und seine Geschwister ärgerten ihn, um ihm Angst zu machen, da er ja der Jüngste war.
"Ha, ich und Angst", dachte Rudi. "Ihr seid ja nur ein paar Minuten älter", rief er ihnen zu. "Seht mal, ich zeige euch, wie man das macht."
Ehe ihn seine Eltern aufhalten konnten, sprang er auf den Ast. Dieser war aber so glitschig, dass er sofort das Gleichgewicht verlor und in den tosenden Bach fiel.
Seine Eltern und Geschwister liefen aufgeregt am Ufer entlang, aber sie konnten ihm auch nicht mehr helfen. Immer weiter riss ihn der Strom. Bald wusste er nicht mehr, wo oben und unten war. Ihm blieb schon die Luft weg und in panischer Angst begann er um sich zu schlagen, da spürte er etwas Festes.
Er krallte sich so fest er nur konnte an dieses Etwas, und das war seine Rettung. Als er kurz darauf in ruhigerem Wasser trieb, konnte er sich sein Boot etwas genauer ansehen. Es war ein alter Baumstamm, der wohl auch bei dem Gewitter in den Bach gefallen war.
Vorsichtig kroch er jetzt ganz auf den Stamm und schlief dort völlig erschöpft ein. Als er aufwachte, war es schon tiefe Nacht. Der Mond schien hell und die Sterne blinzelten ihm zu.
Ganz still war es um ihn herum. Traurig dachte er an seine Familie und das warme Nest.
Eine dicke Träne rann ihm über die Wange.
Als es hell wurde, sah er, dass er sich schon mitten auf einem großen Fluss befand. Der Fluss wälzte sich langsam dahin und als er einmal in die Nähe des Ufers kam, schwamm er an Land.
Nachdem er sein Fell getrocknet hatte, wollte er gerade das Land erkunden, als eine dicke Ratte direkt vor ihm auftauchte. Nur mit knappem Vorsprung konnte er sich gerade noch in ein Mauseloch retten. Die Bewohner waren allerdings nicht sehr freundlich und sie duldeten ihn gerade so lange, bis die Gefahr vorüber war.
Und so ging es weiter! Überall wo er anklopfte wurde er abgewiesen. Es dunkelte schon und da er immer noch keine Bleibe gefunden hatte, schlich er traurig am Ufer des Flusses entlang.
Als er ein Lagerfeuer sah, steuerte er direkt darauf zu. Am Feuer saß ein alter einäugiger Mäuserich. Zuerst wollte er Rudi verjagen, aber als er sah, dass dieser am ganzen Leibe vor Kälte und Traurigkeit zitterte, ließ er ihn doch an sein Feuer.
Rudi kuschelte sich an das Feuer und erzählte ihm seine Geschichte. Nach und nach taute auch der alte Mäuserich auf. Er war Norddeutscher und lange zur See gefahren. Der alte Seemann berichtete Rudi von fremden Ländern, großen Segelschiffen und gefährlichen Seeabenteuern. Bei einem Kampf mit echten Piraten hatte er auch sein Auge verloren. Eine Geschichte interessierte Rudi ganz besonders, die Geschichte von der Hafenstadt Hamburg. Hamburg sollte an dem Fluss liegen, auf dem er gekommen war und vom Hamburger Hafen aus ging es in die weite Welt.
In dieser Nacht konnte Rudi kaum schlafen. Er träumte von riesigen Seeungeheuern und gefährlichen Piraten.
Am anderen Morgen verabschiedete sich Rudi von dem alten Seemann und lief flussabwärts.
Er hatte beschlossen zur See zu fahren. Als er mehrere Stunden gelaufen war, wurde er müde.
"So, komme ich nie nach Hamburg", dachte er laut vor sich hin und beschloss sofort per Schiff weiterzureisen. Rudi setzte sich auf eine Sandbank und wartete.
Nach einigem Warten schwamm ein geeignetes Stück Treibholz vorbei.
Mutig stürzte er sich in die Fluten und schwamm zu dem Holz. Mit letzter Kraft schwang er sich auf sein Schiff.
"Heih, ich bin jetzt ein richtiger Kapitän", rief er. " Wenn meine Geschwister mich bloß so sehen könnten."
Stolz steuerte er sein Schiff an Feldern, Wäldern und Dörfern vorbei, immer in Richtung Hamburg.
Nachts lag er auf dem Rücken, bewunderte den Sternenhimmel und träumte von der Seefahrt.
Nach drei Tagen erreichte er eine große Stadt. Als er dort riesige Schiffe vor Anker liegen sah, wusste er, dass es nur Hamburg sein konnte.
Schnell sprang er von Bord und schwamm an Land.
Als er sich getrocknet hatte, putzte er sich noch gewissenhaft, um ja einen guten Eindruck zu machen und kletterte dann auf das erstbeste Schiff. Oben angekommen, kam er aber kaum dazu zu sagen, was er wollte, da wurde er schon von den alten Schiffsmäusen verjagt. Eine biss ihn sogar ganz gehörig in sein Hinterteil.
Erbost stürmte Rudi auf das nächste Schiff, aber dort erging es ihm nicht besser. Bis zum Abend hatte er viele Schiffe besucht, aber auf allen waren schon mehr als genug Mäuse.
Als er niedergeschlagen durch die Hafenanlagen schlich, um sich einen Schlafplatz zu suchen, hörte er plötzlich leises Schluchzen. Er näherte sich vorsichtig dem Weinen und fand ein völlig verzweifeltes bildhübsches Mäusemädchen. Sofort schlug sein kleines Herz höher und er tröstete sie. Sie hieß Frieda und ihre Eltern und dreizehn Geschwister waren soeben von der Katze des Hafenmeisters gefressen worden.
Rudi versprach, sie nie mehr alleine zu lassen und erzählte ihr von seinen Plänen. Frieda war froh, diesen tollen Mäuserich getroffen zu haben und versprach sofort mitzukommen.
Am anderen Morgen beschlossen sie, dass Frieda Lebensmittel, Kleidung und was man sonst noch so benötigte, aus der elterlichen Wohnung holen sollte. Rudi wollte erneut sein Glück am Hafen versuchen. Er lief sich fast die vier Füße wund, aber überall erhielt er die Antwort vom Vortage.
Als er auch auf dem letzten Schiff abgewiesen wurde, setzte er sich völlig verzweifelt an den Kai. Dicke Tränen kullerten über seine Mäusewangen. "Was sollte er bloß Frieda sagen?"
Neben ihm entlud ein großer Frachter mit einem Kran exotische Früchte.
Plötzlich fiel eine der Früchte aus dem Netz und zerplatzte direkt neben ihm.
Es war eine Kokosnuss. Zuerst schimpfte Rudi, wie ein Rohrspatz, doch dann sah er, dass eine Hälfte der Kokosnuss ins Wasser gefallen war und wie ein Schiff schwamm.
Die andere Hälfte lag neben ihm. Da hatte er einen Plan. Er würde sich selbst ein Schiff bauen.
Sofort begann er mit der Arbeit und knabberte zuerst das Fleisch aus der Kokosnuss. Danach suchte er sich einen Stab als Mast und ein altes Taschentuch als Segel. Bis spät in die Nacht werkelte er an seinem Boot. Es hatte sogar eine richtige Kajüte für ihn und Frieda.
Eilig lief er dann zu dem vereinbarten Treffpunkt.
Frieda erwartete ihn schon sehnsüchtig und gab ihm einen dicken Kuss. Sein mausgraues Gesicht wurde vor Verlegenheit fast puterrot.
Sofort packten sie ihre Sachen und liefen zum Boot. Frieda war entzückt. In Windeseile hatten sie alles verstaut und beide konnten kaum die Flut abwarten, um endlich in See zu stechen.
Als es hell wurde waren sie schon weit draußen und das Land war kaum noch zu sehen.
"Wohin segeln wir eigentlich?", fragte Frieda.
Rudi kratzte sich bedächtig hinter dem Ohr und machte ein wichtiges Gesicht: "Es wird eine Überraschung, Frieda, du wirst schon sehen!"
Rudi hatte sich das Meer überhaupt nicht so groß vorgestellt, man konnte ja nicht einmal mehr die Küste sehen. Viele Tage und Nächte segelten sie jetzt südwärts. Als die Vorräte knapp wurden, fanden sie zum Glück einen Haken und etwas Angelschnur unter Friedas Habseligkeiten.
Fisch war zwar eine etwas seltsame Nahrung für Mäuse, aber sie gewöhnten sich daran.
Obwohl Frieda grenzenloses Vertrauen zu Rudi hatte, kamen ihr nach einigen Wochen doch Zweifel. Durch seine Zuversicht gelang es ihm zwar immer wieder, sie zu beruhigen, aber nachts lag er doch oft wach und grübelte.
Eines Tages zog eine gewaltige Gewitterfront auf. Blitze zuckten und der Donner krachte, dass einem die Ohren wehtaten. Die Wellen wurden immer höher. Erste Brecher schlugen schon in ihre Nussschale. Verzweifelt schöpften die Mäuse das Wasser wieder heraus, aber der Sturm machte die Arbeit fast sinnlos. Sie wurden immer erschöpfter und der Sturm wurde zum Orkan.
Als es immer auswegloser wurde, umarmten sie sich, hielten sich ganz fest und waren sicher, jetzt sterben zu müssen. Endlich schliefen sie vor Angst und Erschöpfung ein.
Rudi wachte erst wieder auf, als ihn ein Sonnenstrahl in der Nase kitzelte.
"War er im Himmel?" Es musste so sein, denn das Boot schaukelte nicht mehr.
Vorsichtig blickte er über die Reling. Ein herrlicher weißer Sandstrand leuchtete ihm entgegen. Zuerst kniff er sich in sein Bein, um zu testen ob er träumte. Doch alles war tatsächlich so, wie er es gerade gesehen hatte.
Sie waren gestrandet! Aufgeregt weckte er Frieda. Beide tanzten vor Freude am Strand entlang und liefen dann überglücklich in den nahen Urwald. Dort wurden sie sofort von vielen fremdartigen Tieren bestaunt. Niemand von ihnen hatte jemals zuvor eine Maus gesehen. Auch Katzen kannte hier niemand.
Voller Freude bauten sich Frieda und Rudi ein Nest.
So wurde ihr Mut doch noch belohnt und beide hatten noch viele Kinder und ein langes sorgenfreies Leben.
Wenn du also, auf einer einsamen Insel, einmal Mäuse siehst, werden es wohl die Nachfahren von Frieda und Rudi sein.