1. Szene
Mitten auf dem Lande. In einer kleinen Stadt, umgeben von Feldern. Vereinzelt stehende Bäume.
Schmale Straßen und enge Spazierwege entlang der Äcker. Als Erstes erkennt man den Kirchturm der Stadt. Dann die zumeist alten Häuser, verwinkelte Gassen. Romantische Straßenlaternen.
Es ist Vorweihnachtszeit. Alles von einer Schneedecke verhüllt. Über den Straßen hängen Sterne und Engelsfiguren aus bunten Birnen. Die Fenster sind mit Kerzen geschmückt.
Ein Spaziergänger wandert gegen Abend durch die Straßen. Es schneit ununterbrochen. Sein Blick bleibt am Fenster einer Dachwohnung hängen.
2. Szene
Herr Sänger, ein Musiker und Komponist, sitzt in seinem Wohnzimmer am Schreibtisch und schaut auf ein leeres Notenblatt vor ihm. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Notenhefte und Musikliteratur. Seine Dachwohnung: Winzige Vordiele. Von dort gelangt man rechterhand ins Schlafzimmer. Eine Tür führt aus dem Schlafzimmer ins Bad. Linkerhand betritt man von der Diele aus die Küche. Geradeaus gelangt man ins Wohnzimmer. Sitzgarnitur, zwei Stehlampen. Entlang der Wände: An der einen Seite nur Bücherregale, an der gegenüber liegenden Wand ein Sideboard. Vor dem Fenster der Holzschreibtisch, davor ein Schreibtischstuhl. Auf dem Schreibtisch brennt eine Kerze.
Der Komponist seufzt. Es fällt ihm nichts ein. Malt in Gedanken eine Note aufs Blatt: Es ist ein "E".
"Heute wird das nichts mehr. Mensch, bin ich unzufrieden.
Ich schlaf erst mal die Nacht drüber. Vielleicht habe ich morgen Glück." Verschwindet ins Bett. Wirft sich im Traum unruhig hin und her. Murmelt vor sich hin.
3. Szene
Die kleine Note wünscht sich:
" Wenn ich dem doch zu seiner romantischen Komposition verhelfen könnte. Dann hätte ich gleichzeitig auch die passende Melodie für mich.
Aber allein schaffe ich das nicht. Ich komme hier ja nicht weg.
Bin an mein Notenblatt gefesselt."
Betet.
Fidelius, ihr Schutzengel eilt auf dem kürzesten Wege direkt aus dem Himmel herbei. Er erscheint der Note in einem gleißend hellen Licht.
Das "E" erschrickt sich fürchterlich:
"Bitte, schimpf nicht mit mir. Ich war ganz brav, hab` bestimmt nichts angestellt." Fidelius(sehr liebevoll):
"Brauchst keine Angst zu haben. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Für die heutige Nacht wirst du frei sein. Du darfst durch die Welt reisen und dich auf die Suche nach einer passenden Melodie machen. Aber vergiss nicht: Nur diese einzige Nacht!" Fidelius verschwindet. Es wird wieder dunkel in der Dachstube.
"E"::
"Wie soll das denn gehen?
Wie soll ich denn hier von meinem Blatt `runter kommen?" Während sie noch so überlegt, geht ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Plötzlich kann sie den Kopf drehen, den Hals biegen. Sie wird immer beweglicher. Schließlich hopst sie von ihrem Blatt. Benutzt ihren Kopf wie ein Rad. Rollt an der Kante des Schreibtisches bis zum Boden, dann am Rand des Teppichs bis zur Zimmer-, dann weiter bis zur Wohnungstür. Sie setzt sich auf das Treppengeländer und rutscht runter:
"Juhuu, ich bin frei!"
Bis ins Erdgeschoss und aus dem Haus heraus. Verhält dort kurz. Bestaunt alles. Wird mutiger, rollt schneller weiter. Springt den Bordstein rauf und runter. Kein Verkehr. Zuckelt durch die Straßen.
4. Szene
Sie verlässt ihre Heimatstadt.
"Meine Güte, was mir alles in der Zeit als Blattnote entgangen ist!
Wie schön ist doch die Welt!"
Wandert in die Ferne. Sieht zum ersten Male in ihrem Leben den Schnee. Staunt. Singt:
" Schneeflöckchen, Weißröckchen...!"
Am Horizont ist eine große Stadt zu erkennen. Kirchturm, dann ein Häusermeer.
5. Szene
Note nähert sich der Stadt. Wasserrauschen.
"Nanu, da plätschert es doch. Das Geräusch kenne ich vom Wasserhahn zuhause! Der war aber nicht so laut. Mal gucken, woher das kommt." Späht suchend umher, folgt dem Wasserrauschen, sieht einen breiten Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt.
"Wie der wohl heißt??"
Entdeckt ein Schild:
"Rhein".
" Welche Stadt das wohl ist??
Ein zweites Schild: Düsseldorf.
"Die muss ich mir genauer ansehen.
Hier wohnen bestimmt viele Leute, die Musik mögen!" Aus dem Hintergrund hört man die unterschiedlichsten Musikklänge.
Altstadt von Düsseldorf.
Menschengewimmel, Straßengeräusche.
"Meine Güte, ist das hier toll! In Düsseldorf soll es ja auch gute Theater geben und eine Oper. Das hat doch dieser Bekannte von Herrn Sänger gesagt.
Da gehe ich hin. Da werden alle Arten von Musik gespielt.
Da ist bestimmt auch das Richtige für mich dabei!" Vor der Oper: Menschenansammlung.
Programmankündigung im Schaukasten: "Wagner".
"Brr", nein, danke!
Ich möchte eine romantische, leichtfüßige Musik." Wandert weiter durch die Laternen erleuchteten Straßen, beachtet die Verkehrsregeln nicht. Rollt mit ihrem Kopf zu weit auf die Fahrbahn. Ein Wagen versucht, ihr in der Dunkelheit auszuweichen. Rammt beim Bremsen ein auf der Gegenseite parkendes Fahrzeug. Der Fahrer, ein im Jeansdress flott gekleideter junger Mann von etwa 30 Jahren, steigt aus, lehnt sich an sein ebenfalls beschädigtes eigenes Auto. Er wischt sich ungläubig mit der Hand über die Augen, kann es nicht fassen, wen er da vor sich sieht:
"Ich muss ´nen Schock haben. Andere sehen dann Sterne oder auch weiße Mäuse und ich seh` doch tatsächlich Noten. Vielleicht sollte ich dringend einen Arzt aufsuchen"!
Da er jetzt schon genug Ärger am Hals hat, beschließt er, sich lieber über gar nichts mehr zu wundern. Stattdessen faucht er:
"Verflixt, kannst du denn nicht Acht geben, hast du keine Augen im Kopf? Unerhört, so etwas!" "E" entschuldigt sich verschüchtert. Schlägt vor:
"Entschuldigung!...Darf ich ihnen vielleicht etwas vortönen??" Der junge Fahrer:
"Bei dir piept es wohl! Deinetwegen komm ich jetzt viel zu spät zur Vernissage. Ausgerechnet heute musst du mir über den Weg laufen, wo ich so einen wichtigen Termin habe!!" Ohne darauf etwas zu erwidern, sucht die Note schleunigst das Weite.
6. Szene
Das "E" wandert weiter. Plötzlich spricht es eine feine Stimme an. Das "E" ist baff, findet zuerst vor Überraschung keine Worte. Da steht doch tatsächlich eine andere Note neben ihr:
"War das langweilig so allein! Toll, dass ich dich hier treffe!" Kurzes Überlegen:
Sag einmal - ist dir eigentlich nicht klar, wie gefährlich es für uns Noten ist, ohne unser Notenblatt unterwegs zu sein? Das ist bestimmt deine erste Reise, nicht?" Die Note hat sich inzwischen wieder gefangen und fragt forschend nach:
"Wie kommst denn du hierher? Wieso stehst du denn nicht zuhause auf deinem Notenblatt?" Die andere Note (mit trauriger Stimme):
"Tja, mich hat mein Komponist aus meinem Blatt herausgerissen.
Dem passte ich für seine Melodie nicht mehr! Ach übrigens, ich heiße "A".
Die Note:
"Ich bin "E"! Sag` ´mal, ist dir eigentlich auch dein Schutzengel erschienen? Meiner hat mich besucht und mir erlaubt, diese Nacht herum zu reisen und nach einer Melodie für meinen Komponisten und damit auch für mich zu suchen." Das "A":
"Ist ja irre! Zu mir ist auch mein Engel Ambrosius gekommen, um mir zu helfen. Damit ich nicht für den Rest meines Lebens allein bleiben muss." Das "E" schlägt vor:
"Lass uns zusammen weiterziehen. Dann sind wir beide nicht so allein und können aufeinander aufpassen, einverstanden?"
7. Szene
Sie rollen in eine Diskothek. Sehen das verrückte Benehmen der Leute, sind darüber entsetzt.
"E":
"Die sind doch hinterher reif fürs Krankenhaus oder die Irrenanstalt! Ist ja schrecklich!" "A" lacht:
"Sollen wir denn nicht auch ´mal...?"
Das "E-moll" ist empört:
"Damit ich mir bei diesen Verrenkungen wohlmöglich den Hals breche? Wahrscheinlich haben die in ihren Krankenhäusern doch keinerlei Ahnung davon, wie man gebrochene Notenhälse verarztet? Garantiert gipsen sie mir den dann noch falsch herum ein und ich kann dann mein ersehntes Ziel, in einer tollen Melodie eine Rolle zu spielen, endgültig vergessen!" Fünf Minuten später fliehen sie des unmöglichen Krachs wegen nach draußen.
8. Szene
Betreten auf der anderen Straßenseite ein großes Musikgeschäft. Im vorderen Raum viele Instrumente, dann im hinteren Raum Klaviere und ein Flügel. Überall längs der Wände Regale mit Notenheften. Sie rollen eines von denen hinauf. Sprechen eine Klassiknote in einem der Hefte an:
Das "E":
"Wir sind schon soo lange unterwegs. Unserem Künstler ist nichts eingefallen, was für uns passend gewesen wäre. Jetzt sind wir auf der Suche nach einer verträumten Melodie. Damit unser Meister endlich auf die richtige Idee kommt. Weißt du vielleicht Rat?" Die Klassiknote:
"Da braucht ihr nicht mehr umher zu irren. Hier ganz in der Nähe gibt es ein sehr romantisches Tanzcafe, nur drei Nebenstraßen weiter. Ich könnte mir vorstellen, dass die Musik dort genau das ist, was ihr sucht."
Noten:
"Vielen, vielen Dank auch. Alles Gute für euch!"
9. Szene
Sie überqueren die Königsallee, biegen in die dritte Seitenstraße links vor Aufregung viel zu schnell ein.
"A":
"Bist du wahnsinnig geworden? Bei dem Tempo kriegst du doch gleich die Kurve nicht und saust gegen den nächsten Baum!" "E" bremst ab. Kratzt dazu indem es mit der Halsspitze über das Straßenpflaster.
Musik. Die Noten rollen ins Lokal.
Tanzen.
"E":
"Dieser Tanz dürfte nie zu Ende gehen. Ach, ist das schön!
Ja, so eine Musik müsste Herr Sänger komponieren. Das wäre wunderbar!" Die Noten bitten ein zweites Mal Engel Fidelius um Hilfe. Er erscheint in einem himmlischen Licht vor dem Tanzlokal.
"Gerne helfe ich Dir, denn du bist eine besonders liebe Note. Du denkst nicht nur an Dein eigenes Glück, sondern vergisst in Deiner Freude auch Andere nicht, willst deinem Künstler Deine Dankbarkeit dafür beweisen, dass er Dich geschaffen hat. Deshalb habe ich eine Belohnung für euch: Eure Freundschaft wird ewig dauern. Ihr sollt in derselben Melodie für immer zusammen sein! Morgen wird euer Künstler eine Weise komponieren, die schöner ist als alles, was ihr bisher gehört habt. Sie wird ihm und euch zu Ruhm und Ehre gereichen!" Fidelius verschwindet. Das himmlische Licht erlischt.
10. Szene
Für wenige Sekunden Stille. Dann das "E":
"Oh, ist das toll! Wir können für immer zusammen bleiben. Stell Dir vor, wir werden nicht nur die Straßen, sondern auch die großen Theater dieser Welt mit unserer Melodie erobern!" Eine liebliche Melodie erklingt. Noten schweben plötzlich in der Luft.
"Bei solchen Klängen kann uns doch eigentlich nichts Schlechtes widerfahren, nicht?!" Versuchen sich gegenseitig zu beruhigen. Sie steigen immer höher und sausen wie Flugzeuge am Himmel dahin. Schließlich sind sie nur noch von Sternen umgeben.
"Birgt die unsere kleine Erde wirklich als einziger Planet Leben in diesem riesigen Universum? Was wird uns jetzt noch begegnen?"
"E":
"Die Sterne sind tausendmal schöner als all die Diamanten in den Geschäften auf der Königsallee!"
11. Szene
Tauchen wieder in die Wolkendecke ein, sind auf dem Heimflug. "E":
"Warum können wir nicht für immer dort oben bei den Sternen bleiben?"
"A":
"Hast du denn etwa schon vergessen, weshalb wir diese Reise unternommen haben...?"
"E":
"Nein, du hast ja Recht. Und wenn ich daran denke, was uns an Schönem noch erwartet, wird es mir gleich wieder wunderbar warm!" Sie landen. Rollen durchs Haus zurück in Herrn Sängers Wohnung. Stellen sich auf die Notenlinie, die der Künstler dem "E" zugedacht hat. Stehen von da an regungslos wie jede normale Note.
12. Szene
Es wird Tag. Der Musiker erwacht.
"Eigentlich komisch, dass ich heute so fröhlich bin. Schließlich ist mir immer noch keine Komposition eingefallen!" Setzt sich an den Schreibtisch:
"Hä? Was ist das denn? Das gibt es doch nicht! Ich hab doch gestern nur eine Note gezeichnet. Wo kommt denn diese zweite her??" Verschwindet nochmals im Badezimmer. Wäscht sich mit einem kalten Waschlappen nochmals durchs Gesicht. Kehrt an den Schreibtisch zurück.
"Die ist ja immer noch da! Das gibt es doch nich
Murmelt:
"Ob da im Himmel jemand Mitleid mit mir hat? Wir haben bald Weihnachten - ob mir ein kleines Wunder widerfahren ist...ja, ´ne andere Erklärung dafür wüsste ich nicht?!" Der Künstler baut das "A" in seine neue Komposition ein. Man sieht ihn minutenlang flink Noten auf das Notenblatt schreiben. Als er fertig ist, nimmt er seine Geige und spielt die Melodie.
13. Szene
Herr Sänger hat Besuch von seinem Freund. Erwähnt die neue Komposition. Spielt sie ihm vor.
Freund ist begeistert:
"Das hört sich toll an. Diese Musik darf dem Theaterpublikum nicht vorenthalten werden!"
14. Szene
Herr Sänger wird auf Empfehlung eines Musikkenners vom Direktor der Oper zum Vorspiel eingeladen.
Direktor:
"Wären sie bereit, ihre Komposition anlässlich eines Galaabends dem Publikum vorzustellen?" Herr Sänger überlegt kurz. Dann:
"Das wird mir eine große Ehre sein!"
15. Szene
Am nächsten Samstag im Theater. Herr Sänger steht hinter dem Vorhang. Zeiht ihn ein wenig zur Seite. Blickt auf sein Publikum. Der Saal ist ausverkauft. Er schluckt aufgeregt:
"Vor so vielen Leuten soll ich spielen??" Er wird angesagt:
"Und nun hören sie die neueste Komposition eines unserer Nachwuchskünstler, Herr Sänger, darf ich bitten?" Er tritt auf. Es wird ein ausgezeichneter Vortrag .Er wird gefeiert. Sieht aufs Notenblatt:
"Das sieht tatsächlich so aus, als ob mir meine Noten strahlend zuzwinkern!" Unmerkbar fürs Publikum zwinkert er zurück.
"E" flüstert halblaut vor sich hin:
"Jetzt sollten mich ´mal all die eingebildeten Klassiknoten sehen. Die würden sich wundern, was eine einfache Straßennote so alles schafft. Deren Köpfe verlören vor Neid garantiert all ihre Farbe!" "A" ergänzt:
"Jetzt hätten wir Grund dazu, die wie Luft zu behandeln. Denn wir haben nicht nur die weite Welt da draußen, sondern sogar solch berühmte Theater wie dieses mit unserer Melodie erobert!" Noten strahlen.
Tosender Beifall.