Im weit entfernten Norwegen wanderte derweil ein einsamer Mann durch die wunderschönen Fjorde. Zehn Jahre lang hing er nun schon seinen dunklen Gedanken nach. Er hatte sich feige in sich zurückgezogen und nie versucht, das Düstere zu vertreiben.
Egal, wo er auch hinging, die Verzweiflung wurde er nie los. Deshalb hielt er es auch nirgends lange aus.
Seit Mary in das Herrenhaus gekommen war, war er schon viel gereist. Er war in Städten gewesen und auf Berge geklettert. Er hatte die Sonne von dort aus aufgehen sehen, aber das Licht hatte ihn nie erreicht.
An einem Tag merkte er, dass sich etwas in ihm veränderte. Es passierte nach einer langen Wanderung. Er setzte sich erschöpft an einen Fluss und sah in das dahinströmende, sonnendurchflutete Wasser.
Nach einer Weile sah er sich um und entdeckte ein Kissen voller Vergissmeinnicht. Er betrachtete sie und es fiel ihm ein, dass es Jahre her waren seit er das letzte Mal Blumen angesehen hatte.
Verwundert stand er auf. Plötzlich fühlte er, dass sich ein Knote in ihm gelöst hatte. "Auf einmal spüre ich, dass ich lebe", sagte er vor sich hin.
Den ganzen Abend hielt diese innere Ruhe an. Am nächsten Tag war sie verschwunden, aber es gab immer wieder Momente, an dem sie wiederkam und vollkommen grundlos seine düsteren Gedanken vertrieb.
Bis zum Herbst zog er noch weiter herum. Dann fing er an, immer öfter an Misselthwaite zu denken. Er dachte auch an seinen Sohn, an das weiße,schlafende Gesicht im Kissen. Was würde er wohl fühlen, wenn er ihn wieder so daliegen sehen würde? Es erschreckte ihn, daran zu denken.
An einem Morgen brachte man ihm einen Brief aus England. Er öffnete den Umschlag.
"Liber Herr,
ich bin Susan Sowerby, die Frau, die einmal so frei war, sie im Moor wegen Miss Mary anzusprechen. Heute möchte ich mir noch einmal die Freiheit erlauben, Sie um etwas zu bitten. Bitte, Sir, kommen Sie nach Hause. Wenn ich Sie wäre, würde ich gerne kommen. Bitte seien Sie nicht böse, aber auch ihre Gattin, wenn sie noch bei uns wäre, würde Sie bitten, zu kommen.
Ihre gehorsame Dienerin Susan Sowerby".
Einige Tage später war er zurück in England. Während der Zugfahrt hatte er mehr als jemals zuvor an seinen Sohn gedacht. Er erinnerte sich an seine Wut, als seine Frau tot, der Junge aber am Leben war. Er hatte ihn nicht sehen wollen und als er sich doch einmal überwand, sah er ein schwaches, kränkliches Kind vor sich, von dem jeder sagte, dass es bald sterben würde.
Überraschenderweise lebte der Junge weiter, aber man war sicher, dass er ein Krüppel werden würde.
Mr. Craven hatte sich nicht als Vater gefühlt. Er stellte Schwestern und Ärzte für Colin ein und ließ Spielzeug besorgen, aber wie es Colin wirklich ging, daran hatte er nie gedacht. Er war zu sehr mit sich selbst und seinem Kummer beschäftigt gewesen.
Heute fragte er sich, was er sich nur dabei gedacht hatte. Was hatte es mit dem Brief auf sich? War Colin kränker geworden?
Die holprige Fahrt durch das Moor beruhigte ihn seltsamerweise. Freute er sich auf das Nachhausekommen? Er konnte es sich nicht erklären, er hatte doch gedacht, dass er nie mehr Freude an irgendetwas empfinden können würde.
Die Dienerschaft empfing ihn im Herrenhaus in der gewohnten Weise. Er bat Mrs. Medlock zum Gespräch in die Bibliothek. Sie war sichtlich nervös und irritiert,
Mr. Craven fragte sie nach dem Befinden seines Sohnes. Sie sagte, es gehe ihm gut und er wäre irgendwie anders geworden. Sie erzählte ihm von seinem wechselnden Appetit und davon, dass er nach seinem letzten schlimmen Anfall plötzlich darauf bestanden hatte, mit Mary und Dickon in seinem Rollstuhl hinauszufahren.
"Wie sieht er denn aus?", erkundigte sich Mr. Craven.
"Er sieht kräftiger aus, aber wir befürchten, dass er nur aufgedunsen ist", sagte Mrs. Medlock.
"Wo ist er?", wollte Mr. Craven von ihr wissen.
"Im Garten, wo er immer ist", antwortete sie. "Keiner von uns darf sich ihm dort nähern. Offensichtlich möchte er nicht beobachtet werden."
"Im Garten?". Mr. Craven dämmerte es. "Im Garten!", wiederholte er immer wieder, machte kehrt und lief hinaus. Auf direktem Weg ging er zu dem verschlossenen Garten. Er hatte das Tor verschlossen und den Schlüssel vergraben und doch hörte er Stimmen und Schritte im Garten. Träumte er?
Die eiligen Schritte kamen näher und er hörte ein unterdrücktes Lachen. Und dann wurde plötzlich der Efeuvorhang zur Seite gerissen und ein Junge kam ihm entgegen gerannt. Der Junge sah ihn nicht, weil er so in Eile war und rannte Mr. Craven fast um.
Er konnte gerade noch die Arme ausbreiten, um den Jungen vor dem Zusammenprall zu bewahren. Er sah in ein vor Aufregung und Freude gerötetes Gesicht. Es war ein großer hübscher Junge, der vor Lebensfreude glühte. Er sah zu Mr. Craven auf. "Was?- Wer?", stammelte er.
So hatte Colin das Zusammentreffen mit seinem Vater nicht geplant. Er hatte soeben ein Wettrennen gegen Mary gewonnen. Das war viel besser als sein Plan. Er stand als Sieger eines Wettrennens vor seinem Vater.
"Vater! Ich bin es, Colin. Vielleicht glaubst du mir nicht. Ich glaube es ja manchmal selber noch nicht. Ich bin Colin!", rief er.
Sein Vater murmelte nur immer wieder "Im Garten. Im Garten.".
"Ja, der Garten war es. Er hat mich mit seinem Zauber gesund gemacht. Und Mary und Dickon mit seinen Tieren! Ich bin gesund. Keiner weiß davon. Ich wollte es dir zuerst erzählen. Ich habe ein Wettrennen gewonnen. Ich werde Athlet!". Seine Worte überschlugen sich fast vor Eifer.
Er berührte den Arm seines Vaters. "Freust du dich nicht, Vater?"
Mr. Craven legte seine Hände auf die Schultern seines Sohnes. Er sah ihn an. Er konnte kaum sprechen, überwand sich dann aber. "Bring mich in den Garten, mein Junge. Und dann erzähl mir alles."
Der bunt blühende, prächtige Garten umfing sie. Alle setzten sich. Nur Colin wollte stehen und erzählte seine Geschichte. Es war die seltsamste Geschichte, die Mr. Craven jemals gehört hatte.
Nun war das Geheimnis gelüftet und es war gut so. Colin sagte, er werde niemals mehr in dem Rollstuhl fahren und würde jetzt sofort mit seinem Vater ins Haus gehen. Er freute sich schon auf die erschrockenen Gesichter der Hausangestellten.
Als Mrs Medlock aus dem Fenster sah, traute sie ihren Augen nicht. Sie riss ihre Arme hoch und stieß einen Schrei aus. Alle Bediensteten liefen an de Fenster und sahen mit Staunen, wie ein Vater und ein Sohn zusammen über den Rasen schritten. Der Eine war der Besitzer von Misselthwaite, der ganz anders aussah als sonst. Und der Andere, -den Kopf hoch erhoben und mit lachenden Augen, stark und sicher wie jeder andere Junge- war Master Colin.