"Wenn dies der Schlüssel zu dem geheimen Garten ist", überlegte Mary, "dann weiß keiner, dass ich ihn nun habe. Und wenn ich das Tor fände und in den Garten hinein könnte, wüsste niemand, wo ich bin." Der Gedanke gefiel Mary. Sie wollte außerdem herausfinden, was mit den Rosensträuchern geschehen war, und welche Pflanzen dort noch wuchsen.
Sie war ganz aufgeregt. Seit zehn Jahren würde sie der erste Mensch sein, der den Garten wieder betrat. Es war vielleicht etwas Seltsames in dieser Zeit mit dem Garten geschehen. Wie würde er wohl aussehen?
Sie war nun an der Mauer des Gartens und sah sich die Efeuranken, von denen sie bewachsen war, ganz genau an. Aber sie konnte beim besten Willen nichts anderes erkennen als grüne Blätter und schwere Ranken.
Am nächsten Morgen war Martha wieder da. Sie war über Nacht in der Hütte geblieben und war um vier Uhr aufgestanden, gut gelaunt durch das Moor gelaufen und pünktlich und frisch aussehend bei der Arbeit.
Sie erzählte Mary, wie sie mit ihrer Mutter Brot und Küchlein gebacken hatte und wie sie alle am Abend beim Feuer zusammengesessen hatten und Martha Geschichten von Mary erzählte. "Alles wollten sie wissen über dich. Über das Schiff, mit dem du hergekommen bist und über die Eingeborenen in Indien. Sie konnten es gar nicht glauben, dass du dort so bedient worden bist, dass du dir nicht einmal deine Strümpfe alleine anziehen kannst."
Mary versprach Martha noch ein paar spannende Geschichten zu erzählen, bevor sie das nächste Mal zu ihrer Familie ging. Sie wollte von Elefanten, auf denen man reiten konnte berichten und von Männern, die auf Tigerjagd gingen, damit Marthas Familie etwas Spannendes zu hören bekommen würde. Martha freute sich: "Das wäre toll!"
"Ich habe ein Geschenk für dich", sagte Martha. "Mutter hat es für dich von einem vorbeifahrenden Händler gekauft." Sie zog ein Springseil unter ihrer Schürze hervor.
"Ein Geschenk? Für mich?", fragte Mary erstaunt und starrte auf das Seil. "Was ist das?"
"Kennst du etwa kein Springseil?", fragte Martha lachend und führte ihr bereitwillig vor, wie man Seil springt.
Das ist wirklich sehr nett von deiner Mutter. Glaubst du, ich kann es schaffen, auch so zu springen wie du?", fragte Mary.
Sie müsse es einfach ausprobieren, meinte Martha. Ihre Mutter habe gesagt, dass Seil springen das Beste für Mary wäre, davon würde sie kräftig werden.
Beim Üben stellte Mary fest, dass sie keine kräftigen Arme und Beine hatte und auch nicht besonders geschickt war. Aber es machte ihr so großen Spaß, dass sie gar nicht mehr aufhören wollte. Sie hüpfte draußen im Garten weiter, nachdem sie sich umständlich bei Martha bedankt hatte,die Lachen musste, weil Mary dabei so steif und verlegen wirkte.
Im Garten traf sie Ben Weatherstaff, der sich wunderte, dass Mary Seil sprang. "Du bist ja doch ein Kind!", rief er, weil er sie nie hatte spielen sehen. "Du bekommst sogar langsam rote Wangen." Robin tanzte um Ben herum und beobachtete Mary eindringlich.
Mary hüpfte und sprang bis sie ganz außer Atmen war und eine Pause machen musste. Mary hielt an der Mauer, hinter der der geheimnisvolle Garten lag. Sie bemerkte, dass das Rotkehlchen ihr gefolgt war. Es saß auf der Mauer und begrüßte sie zwitschernd.
Was jetzt folgte, erinnerte sie an die Geschichten von Zauberei, die ihr ihre Ayah in Indien oft erzählt hatte. Ein geheimnisvoller Windhauch wehte durch den Gartenweg, der kräftig genug war, um die Efeuranken zu zersausen. Direkt vor ihren Augen riss er plötzlich ein paar Zweige zur Seite, die Mary blitzschnell packte und festhielt.
Als sie die Zweige zur Seite bog, sah sie etwas aus Eisen. Sie zitterte vor Aufregung. Sie hatte das Schlüsselloch des Gartentores gefunden! Sofort zog sie den Schlüssel hervor, steckte ihn in das Schloss und nahm beide Hände, um ihn herumzudrehen. Es funktionierte: Der Schlüssel ließ sich drehen.
Vorsichtig sah Mary sich um. Es hatte sie niemand gesehen. Hierher schien niemals jemand zu kommen. Sie holte tief Luft und presste sich an das Tor, das sehr langsam nachgab. Als der Spalt groß genug war, dass sie hindurchpasste, ging Mary durch das Tor und machte es von innen wieder zu.
Mary konnte ihr Glück kaum fassen. Es verschlug ihr vor Freude und Aufregung den Atem. Sie hatte es geschafft. Sie war in dem geheimen Garten.