Jeden Tag in dieser Woche ging Mary in den geheimen Garten. Sie genoss die Sonne, die jeden Tag schien und das Gefühl, dass niemand wusste, wo sie war. Die Mauern um den Garten beschützen sie und sie fühlte sich geborgen hier.
Sie hatte sich auch an den Wind gewöhnt, sie liebte es inzwischen, draußen zu sein. Auch das Seilspringen gelang ihr immer besser, sie schaffte schon hundert Sprünge.
Voller Energie grub sie ihren Garten um und zupfte Unkraut aus. Endlich hatte sie etwas gefunden, dass sie voll und ganz erfüllte. Sie konnte gar nicht genug von der Gartenarbeit bekommen.
Immer, wenn sie morgens in den Garten ging, konnte sie sicher sein, neue Blumentriebe zu finden. Sie entdeckte so viele neue Triebe, wie sie nie gehofft hatte zu finden. Sie stellte sich vor, wie schön der Garten erst sein musste, wenn all diese Blumen blühten.
In dieser Woche traf sie oft auf Robin, der ihr Freund geworden war. Auch Ben Weatherstaff lernte sie langsam immer besser kennen. "Du tauchst auch immer auf, wenn man es am wenigsten erwartet, wie Robin", sagte er eines morgens zu Mary. Eifrig grub er und schwieg eine Weile. Aber da er freundlich dreinschaute, wagte Mary, ihn anzusprechen.
"Was würdest du säen, wenn du einen eigenen Blumengarten hättest?", fragte sie ihn.
"Duftende Blumen, vor allem Rosen", antwortete er.
"Magst du Rosen?", wollte Mary wissen.
Ben Weatherstaff zog erst noch eine Unkrautwurzel aus dem Boden und warf sie beiseite, ehe er antwortete. "Ja, ich mag sie. Habe bei einer jungen Dame als Gärtner gearbeitet, die eine Menge Rosen hatte. In einem Garten, den sie sehr liebte. So liebte, wie sie auch Kinder und Rotkehlchen liebte. Habe gesehen, wie sie sich zu den Rosen hinunter beugte und sie küsste." Ben riss mit zusammengekniffenem Gesichtsausdruck noch mehr Unkraut aus dem Boden. "Zehn Jahre her ist das jetzt."
"Wo ist denn die Dame jetzt?" Mary war zu neugierig geworden, als dass sie hätte aufhören können, weiter zu fragen.
"Der Pastor sagt, sie sei im Himmel", meinte Ben und stieß seinen Spaten kräftig in die Erde.
"Und die Rosen? Was ist aus ihnen geworden? Sind sie gestorben?", Mary wollte es jetzt genau wissen.
"Weiß nicht, blieben sich selbst überlassen. Früher habe ich mich um die Rosen gekümmert, sie beschnitten und ihre Wurzeln bearbeitet. Verwildert werden sie wohl sein, aber der Boden war gut, einige leben bestimmt noch", erwiderte Ben.
Mary war aufgeregt, sie musste einfach noch mehr wissen. "Wie kann man sehen, ob noch Leben in den Rosen ist. Wenn keine Blätter an ihnen sind und grau und braun aussehen?"
"Man muss den Frühling abwarten und die Zweige ansehen. Wenn hier und da braune Knötchen zu finden sind, dann beobachte, wie diese nach einem warmen Regen aussehen." Erst jetzt wurde Ben stutzig. "Sag mal, warum interessierst du dich plötzlich so für Rosen?"
Mary wurde rot und sagte schnell, dass sie Garten spielen wolle, sie hätte doch nichts und niemanden und auch sonst nichts zu tun.
So ganz schien Ben ihr diese Ausrede nicht abzunehmen, aber er gab Mary weiterhin bereitwillig Auskunft. Sie konnte ihm all ihre Fragen stellen und er beantwortete sie in seiner brummigen Art. Ehe Mary ging fragte sie ihn noch, ob er in diesem Jahr die Rosen der Dame schon bearbeitet hätte und das ging Ben zu weit. "Nein. Habe steife Gelenke. Und außerdem sollst du nicht so viele Fragen stellen. Genug für heute! Geh spielen!"
Da er so schroff geworden war, sah Mary ein, dass es keinen Sinn hatte, länger zu bleiben. Sie hüpfte mit ihrem Springseil davon. Sie dachte dabei daran, dass sie, obwohl Ben so brummig war, sie ihn richtig liebgewonnen hatte.
Sie beschloss, den Weg bis zum Wald entlang zu hüpfen und zu sehen, was es dort gab. Da hörte sie plötzlich ein merkwürdiges Pfeifen. Als Mary in die Richtung ging, aus der das Pfeifen kam, staunte sie, als sie einen Jungen unter einem Baum sitzen sah. Er lehnte sich an den Stamm und spielte auf einer Holzflöte.
Eigenartig sah er aus. Ungefähr zwölf Jahre mochte er sein. Er hatte eine Stupsnase und bemerkenswert runde Augen, solche runden Augen hatte Mary noch nie gesehen. Seine Wangen waren so rot wie Kirschen. Um ihn herum waren zwei Kaninchen, ein Fasan und ein Eichhörnchen und es schien, als wären sie gekommen, um seinem Flötenspiel zuzuhören.
Der Junge sah Mary und sagte, dass sie sich nicht bewegen solle, sonst würden die Tiere fliehen. Also stand Mary da wie angewurzelt.
Der Junge hörte auf zu flöten, stand auf und kam ganz langsam und vorsichtig auf Mary zu. Die Tiere begriffen, dass die Vorstellung zuende war und zogen sich unerschrocken in den Wald zurück.
"Ich bin Dickon", stellte sich der Junge vor. "Du musst Mary sein."
"Hast du Marthas Brief bekommen?", fragte Mary.
"Ja, ich habe dir auch deine Gartengeräte und Samen mitgebracht. Komm, wir setzen uns auf den Baumstumpf und sehen uns alles an."
Dickon holte ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche, nachdem sie sich gesetzt hatten. Er zeigte Mary die Samen und erklärte, welche Blumen aus ihnen wachsen würden.
Lächelnd drehte er seinen Kopf und fragte, woher Mary das Rotkehlchen kennen würde, das sie beide riefe.
"Es ruft uns?" Mary war erstaunt.
"Ja", sagte Dickon, als gäbe es keinen Grund, sich zu wundern. "Es ruft nach einem Freund. Da drüben im Busch sitzt es und hat Lust, sich ein wenig zu unterhalten. Bist du sein Freund?"
Mary war ein bisschen verunsichert. "Ich glaube schon. Ich kenne es und es kennt mich auch ein wenig, denke ich."
"Es kennt dich nicht nur, es liebt dich" sagte Dickon lachend. "Gleich wird es mir alles über dich erzählen. Du bist sein Freund. Vögel gehen Menschen, die sie nicht leiden mögen aus dem Weg und dieser Vogel lässt dich ganz nah an sich heran."
"Kannst du alles, was Vögel sagen, verstehen?" Mary war verwundert. Dickons Gesicht schien nur noch aus einem lachenden Mund zu bestehen, weil er so breit lächelte. "Ich glaube schon. Ich lebe zusammen mit ihnen im Moor. Ich beobachte sie, wenn sie aus ihren Eiern schlüpfen, sie flügge werden und zu singen anfangen."
Dann redete Dickon wieder über Blumensamen. Er beschrieb, wie die Blumen aussehen würden, die aus ihnen wachsen würden. Außerdem erklärte er ihr, wie sie sie pflanzen, gießen und beobachte sollte.
"Wo ist denn dein Garten? Ich säe die Samen auch gerne für dich aus", schlug Dickon vor.
Das hatte Mary nicht erwartet. Sie hatte Angst. Sie wollte ihren Garten nicht verlieren, sie hatte sich doch vorgenommen, niemandem von ihm zu erzählen.
Sie schwieg und wurde abwechselnd blass und wieder rot. Dickon war verwirrt. "Du hast doch einen kleinen Garten, oder wollen sie dir keinen geben?", wollte er wissen.
"Ich weiß nicht, ob ich du ein Geheimnis für dich behalten kannst", sagte Mary und presste ihre Hände zusammen. "Es ist ein großes Geheimnis und wenn es herauskäme, müsste ich würde ich bestimmt tot umfallen."
Erstaunt sah Dickon sie an. Fröhlich antwortete er, dass er Geheimnisse immer bewahre. Wenn er zum Beispiel die Geheimnisse der Tiere nicht für sich behalten würde, wo sich ihre Nester und Bauten befänden, würden sie nicht sicher leben können.
"Der Garten, in dem ich immer bin, gehört nicht mir. Ich habe ihn gestohlen", beeilte Mary sich zu sagen. "Keiner will ihn haben, niemand kümmert sich um ihn und niemand geht hinein." Plötzlich wurde sie trotzig wie früher: "Keiner darf ihn mir wegnehmen, weil ich mich um ihn kümmere, was sonst keiner tut. Egal, ob ich ihn gestohlen habe oder nicht."
Dickon verstand Mary. Er wollte den Garten sofort sehen und Mary führte ihn hinein. "Das ist der geheime Garten. Außer mir möchte niemand, dass er lebt." Dickon sah sich genau um. "Ja, der Garten ist wie ein schöner, seltsamer Traum", sagte er schließlich.