Eine von Sherlock Holmes Untugenden - wenn es überhaupt eine ist - war sein Widerwille, jemandem etwas von seinen Absichten anzuvertrauen, bevor der Moment des Handelns gekommen war. Dies geschah teils aus der Absicht, seine Umgebung mit großer Überlegenheit zu verblüffen, teils aus beruflicher Achtsamkeit. Er wollte eben nichts dem Zufall überlassen. Für seine Mithelfer war dies sehr aufreibend.
Die große Endrunde stand unmittelbar bevor. Meine Nerven flatterten vor Spannung. Jeder Schritt der Pferde, jede Umdrehung der Räder brachte uns dem Schluss unseres Abenteuers näher. Wegen des Kutschers konnten wir uns lediglich über belanglose Dinge unterhalten.
Wir ließen den Wagen nicht vor dem Eingang des Schlosses vorfahren, sondern stiegen in der Allee aus. Der Kutscher bekam seinen Lohn und wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Merripit House. Lestrade war mit einem Revolver bewaffnet, ich ebenfalls. Überhaupt waren wir auf alle Eventualitäten vorbereitet. Lestrade bemerkte, dass dies hier keine gemütliche Gegend sei. Er fröstelte und blickte misstrauisch über den vernebelten Grimpensumpf.
Bald sahen wir die Lichter von Merripit House, unserem Ziel. Leise pirschten wir uns zum Haus und klärten, welche Räume beleuchtet waren. Ich schlich den Pfad entlang, um durchs offene Fenster hineinsehen zu können.
Sir Henry und Stapleton saßen einander gegenüber am Tisch, sodass ich sie beide von der Seite sehen konnte. Sie rauchten Zigarren und vor ihnen standen Kaffeetassen und Weingläser. Stapleton redete auf den Baronet ein, der aber verhielt sich zerstreut, wortkarg und schien blass. Womöglich bedrückte ihn der Gedanke an den düsteren Heimweg übers Moor.
Vorsichtig schlich ich zu meinen Freunden zurück und berichtete. Holmes fragte: "Sie sagen, dass Mrs. Stapleton nicht im Zimmer war?" Ich verneinte.
Der dicke, weiße Nebel, der über dem Grimpensumpf lag, bewegte sich immer mehr auf uns zu. Er staute sich neben uns auf, wie eine niedrige, dichte Mauer. Vom Mond beschienen, glich sie einer schimmernden Eisfläche, aus der Felsspitzen hervorlugten. Holmes fürchtete, dass diese Nebelwand unsere Pläne schlimm durchkreuzen könnte, und hoffte, dass Sir Henry rechtzeitig das Haus verließe.
Wir beobachteten weiter. Plötzlich erlosch das Licht, das wir der Küche zugeordnet hatten. Wahrscheinlich hatte der Dienstbote es gelöscht, denn im Speisezimmer, wo die zwei Männer saßen, blieb die Lampe an. Bei dem Gedanken, dass der mordlüsterne Hausherr und sein ahnungsloser Gast da drinnen plauderten …
Holmes schlug wütend mit der flachen Hand auf den Felsen und stampfte ungeduldig auf. "Binnen einer Viertelstunde wird der Pfad vom Nebel verschlungen sein und in einer halben Stunde können wir die Hand nicht mehr vor den Augen sehen! Wenn er jetzt nicht bald rauskommt …"
Wir gingen den Pfad ein wenig zurück, weichend vor der Nebelwand. Zum Glück hörten wir alsbald Schritte. Zwischen den Felsen hockend starrten wir angespannt in den Nebel. Die Schritte wurden lauter und schon trat der Mann, den wir erwarteten, aus dem nebligen Grau hervor. Erstaunt blickte er an den sternenklaren Himmel und eilte schnellen Schrittes den Pfad entlang. Er bemerkte uns nicht. Immer wieder blickte er über die Schulter zurück, wie jemand, der sich ängstigt.
Holmes hatte seinen Revolver gespannt. Er flüsterte: "Aufgepasst - er kommt!" Da hörten wir schnelles Getrappel. Wir starrten alle drei auf die Nebelwand, in ängstlicher Erwartung des Furchtbaren, das aus ihr offenbar werden würde. Holmes Gesicht war blass, jedoch funkelten seine Augen aufgeregt.
Plötzlich stierte er entgeistert nach vorne. Sein Mund öffnete sich vor Entsetzen. Lestrade schrie bestürzt auf und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Ich umklammerte mit zitternder Hand meinen Revolver, sprang auf - halb ohnmächtig, ob des Anblicks dieses grausigen Geschöpfes.
Ein Bluthund - ein riesiger, pechschwarzer Bluthund, wie ihn nie zuvor ein Mensch erblickt hat. Aus seinem offenen Schlund sprühte Feuer, seine Augen glühten, Lefzen und Wampen waren von leuchtenden Flämmchen umloht. Kein Fiebertraum könnte ein wilderes, grauenhafteres und höllischeres Ungeheuer hervorbringen, als der Nebel es hier ausgespuckt hatte. Das schwarze Untier bewegte sich in schnellen Sätzen den Pfad entlang; die Nase dicht über der Erde verfolgte es die Fußspuren unseres Freundes.
Als wir wieder zur Besinnung kamen, feuerten Holmes und ich gleichzeitig los. Der Hund heulte grauenhaft - der Beweis, dass wenigstens eine Kugel ihn getroffen hatte. Er jagte trotzdem weiter und in einiger Entfernung sahen wir den entsetzten Sir Henry stehen, der mit kreidebleichem Gesicht und hilflos erhobenen Händen zu der Bestie blickte.
Holmes rannte an diesem Abend so schnell, wie ich noch nie zuvor einen Mann habe rennen sehen. Wir hörten die Angstschreie des Baronets und das tiefe Grollen des Bluthundes. Ich sah noch, wie das Untier auf Sir Henry zusprang, ihn zu Boden warf und nach seiner Kehle schnappte. Zeitgleich feuerte Holmes die restlichen fünf Kugeln ab. Mit Todesgeheul biss der Hund noch einmal wild um sich, rollte auf den Rücken und fiel nach wenigen Zuckungen auf die Seite. Die Bestie war tot.
Sir Henry lag bewusstlos am Boden. Wir rissen seinen Kragen auf und bemerkten erleichtert, dass er nicht verwundet war. Als seine Augenlider zuckten, hielt Lestrade ihm seine Whiskyflasche zwischen die Lippen. "Bei Gott, was war das?" röchelte Sir Henry entsetzt.
"Was auch immer es war, wir haben diesem Familiengespenst den Garaus gemacht!", beruhigte ihn Holmes. Dieses furchtbare Tier war weder ein reinrassiger Bluthund noch eine reine Dogge - eher eine Mischung aus den beiden. Er war zottig und dürr, wie eine kleine Löwin. Selbst in der Todesstarre leuchtete das Ungeheuer noch. Ich berührte mit meiner Hand den flammenden Kiefer. Als ich sie dann emporhielt, glühten meine Finger in der Dunkelheit auf.
"Ja, das ist ein Phosphorpräparat. Sehr schlau benutzt; eine duftlose Lösung, damit der Geruchssinn des Tieres nicht gestört ist", bestätigte Holmes.
Nachdem wir den Baronet beruhigt hatten, ließen wir ihn am nächsten Granitblock sitzen und versprachen ihm, ihn bald zum Schloss zurückzubegleiten. Holmes erklärte: "Unser Auftrag ist noch nicht ganz beendet. Wir haben nur das Verbrechen aufgeklärt, den Verbrecher müssen wir noch stellen!"