Ab dem 18. Oktober näherten sich die seltsamen Ereignisse schnell ihrem schrecklichen Ende. Nach den Ermittlungen der vergangenen Tage müsste es mir schon an Entschlossenheit oder Verstand fehlen, wenn ich nicht einen Ausweg aus diesem finsteren Durcheinander finden würde.
Weil Dr. Mortimer bis lange in die Nacht hinein beim Baronet verweilte, konnte ich Sir Henry erst am nächsten Morgen von meiner Entdeckung berichten. Ich fragte ihn, ob er mit wolle nach Coombe Tracey. Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es unauffälliger wäre, wenn ich alleine fuhr. So verließ ich Sir Henry schlechten Gewissens und fuhr dem neuen Abenteuer entgegen.
In Coombe Tracey befahl ich Perkins, die Pferde einzustellen. Dann suchte ich nach Mrs. Lyons. Es war nicht schwer, ihre Wohnung ausfindig zu machen, denn sie lag mitten in dem kleinen Ort. Die Wohnung war hübsch eingerichtet und das Dienstmädchen ließ mich ohne weitere Fragen ins Wohnzimmer. Mrs. Lyons saß vor einer Remington-Schreibmaschine und sprang erfreut auf, als Besuch eintrat. Doch ihr freundlicher Gesichtsausdruck verschwand, als sie einen Unbekannten erblickte.
Mrs. Lyons war von außerordentlicher Schönheit. Sie fragte nach dem Grund meines Besuches. Mein erster Eindruck war wie gesagt, dass sie unglaublich schön war. Auf den zweiten Blick jedoch lag in ihrem Gesicht irgendetwas Unangenehmes, eine gewisse Gewöhnlichkeit - kurz, ihre Züge waren nicht vollkommen. Nun empfand ich meine Aufgabe als sehr heikel.
Nach einem holprigen Einstieg ins Gespräch kam ich gleich zum Punkt: "Mein Besuch bei Ihnen betrifft den verstorbenen Sir Charles Baskerville."
Mrs. Lyons errötete und blickte mich abwartend an. Ich fragte sie, in welcher Beziehung sie zu Sir Charles gestanden hätte? Zuerst leugnete sie jegliche Verbundenheit, später dann, gab sie zu, dass sie mehrmals an Sir Charles geschrieben hatte - Dankesbriefe. Nachdem ich die Dame unter Druck gesetzt habe, gab sie zu, am Todestag von Sir Charles sich mit ihm verabredet zu haben. Sie wäre jedoch nicht zu diesem Zeitpunkt an besagtem Ort erschienen.
Ich bat sie, mir ihr Anliegen genauer zu beschreiben. Nach erhöhtem Drängen erklärte sie: "Sie kennen bestimmt die Geschichte meiner freudlosen Ehe. Ich werde immer noch unaufhörlich von meinem Ehemann, den ich verachte, verfolgt. Er will mich zwingen, wieder zu ihm zurückzukommen. Sir Charles wollte ich um eine Summe Geld bitten, die mir dazu verhelfen konnte, meine Freiheit wieder zu erlangen - ich hatte da von einer Möglichkeit erfahren. Dies hätte Glück und Selbstachtung für mich bedeutet. Und weil ich dann von anderer Seite Hilfe erhielt, bin ich zu dem Treffen mit Sir Charles gar nicht erst hingegangen."
Ich wog die neuen Informationen ab. Es wäre unlogisch, wenn sie lediglich behaupten würde, nicht in Baskerville Hall gewesen zu sein. Hätte sie doch einen Wagen dazu gebraucht, was sicher aufgefallen wäre. Also sprach sie vermutlich die Wahrheit. So verließ ich Coombe Tracey enttäuscht und entmutigt.
Je mehr ich allerdings an Mrs. Lyons dachte, an ihr Benehmen und ihr Gesicht, desto mehr war ich mir sicher, dass sie mir Informationen vorenthalten hatte. Weshalb war sie so bleich geworden? Warum war sie so wortkarg und zur Zeit des Verbrechens so schweigsam geblieben? Sie wollte mir dies auf eine unschuldige Art und Weise erklären, die mir nicht einleuchten will.
Im Moment konnte ich meine Ermittlungen nicht in dieser Richtung weiterführen sondern musste mich auf die Steinhütten konzentrieren. Meine Nachforschungen mussten an der Stelle beginnen, an der ich den unbekannten Mann beobachtet hatte. Falls ich ihn an dieser Stelle wieder treffen sollte, würde ich ihn mit vorgehaltenem Revolver zwingen, seine Identität preiszugeben; mir zu sagen, woher er kam und wer er sei. Das wäre ein großer Triumph für mich, denn immerhin war dieser Mann in London sogar Sherlock Holmes entwischt.
Unterwegs traf ich auf Mr. Frankland, der mit roten Wangen vor seiner Gartentür stand, als ich vorüberfuhr. Er grüßte mich ungewöhnlich gut gelaunt und lud mich auf ein Glas Wein ein. Ich mochte ihn nicht besonders, vor allem seit ich wusste, wie er mit seiner Tochter umgegangen war. Trotzdem war es mir eine willkommene Möglichkeit, Perkins mit dem Wagen nach Hause zu schicken. "Richten Sie Sir Henry aus, dass ich rechtzeitig zum Abendessen da sein werde", rief ich ihm nach. Dann folgte ich Frankland ins Haus.
Er erzählte mir, dass er einen neuen Sieg vor Gericht erlangt hätte und dies gelte es jetzt, zu feiern. Auch wenn er angeblich keinen eigenen Vorteil aus diesem Sieg gewann, hätte er hiermit sein Pflichtgefühl gegenüber der öffentlichen Gemeinschaft zu erkennen gegeben. Wir plauderten eine Weile, da sagte der grauhaarige Mann mit verschmitztem Gesicht: "Ich könnte Ihnen was sagen, das sie zu gern wüssten; aber mich wird nichts dazu bringen, diesen Halunken zu helfen."
Eigentlich wäre ich diesem Geschwätz gerne entgangen, doch andererseits empfand ich Neugierde. Inzwischen kannte ich die widerborstige Art des alten Frankland gut genug, um zu wissen, dass ich mit Interesse nicht weiterkam. Deshalb legte ich eine gelangweilte Gleichgültigkeit an den Tag, die den alten Mann reizte. Und tatsächlich ließ sein Redefluss nicht lange auf sich warten.
Er erzählte von dem Jungen, den er ständig beobachte. Der würde bestimmt dem Sträfling Nahrung ins Moor bringen. Die Polizei hielt er für einfältig, weil sie die Spur nie verfolgt hätten. Aber er, er beobachte den Jungen täglich, wie er aufs Moor ging …
Immer wenn ich Mr. Frankland widersprach, rückte er mit neuen Informationen raus. Während wir so diskutierten, blickten wir aufs Moor und der Alte sah tatsächlich den Jungen. Schnell zeigte er mir die zerlumpte Gestalt durch das Fernrohr. Der Bursche blickte schüchtern um sich, als hätte er Angst, verfolgt zu werden. Dann verschwand er jenseits des Hügels.
Mr. Frankland triumphierte und verlangte wichtigtuerisch absolute Verschwiegenheit. Die versprach ich ihm natürlich. Dann verabschiedete ich mich, obwohl mein Gastgeber mich sehr drängte, die Karaffe mit ihm zu leeren.
Solange ich mich von ihm beobachtet fühlte, ging ich die Straße entlang. Später bog ich vom Weg ab ins Moor und ging dem Jungen nach. Ich schwor mir, dass ich keine Möglichkeit ungenutzt lassen würde. Als ich den Hügel erreichte, hinter dem der Junge verschwunden war, ging die Sonne gerade unter. Auf den Abhängen zu meinen Füßen gab es keinen Laut, nichts regte sich. Auch von dem Jungen war keine Spur zu sehen. Aber unter mir entdeckte ich alte Steinhütten in einem Kreis. Und eine davon hatte noch ein Dach, das gut genug war, um Schutz gegen Regen und Wind zu bieten. Mein Herz klopfte nicht, es raste. Dies musste der Bau sein, den ich suchte.
Ich näherte mich der Hütte und stellte fest, dass sie wirklich bewohnt war. Ein Trampelpfad, kaum erkennbar, führte zum verfallenen Eingang. Drinnen war alles still. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Mit vorgehaltenem Revolver ging ich in die Hütte hinein. Sie war leer. Aber ich war auf der richtigen Spur. Der Fremde musste hier wohnen. Eingewickelt in einen Regenmantel lagen einige Wolldecken auf einer Steinplatte. Auf dem Herd lag ein Häuflein Asche und daneben lagen einige leere Konservenbüchsen, die bewiesen, dass hier längere Zeit jemand gelebt hatte.
Mitten im Raum stand ein flacher Stein, der wohl als Tisch diente. Darauf lag dasselbe Bündel, das der Junge bei sich hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Dose mit Wurst und eine andere mit eingemachten Pfirsichen. Als ich alles wieder hinlegte, entdeckte ich den Zettel, mit folgenden Worten: Dr. Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.
Einen Moment hielt ich inne. Was hatte diese Botschaft zu bedeuten? Wurde gar ich verfolgt und nicht Sir Henry? Ich sah mich um, konnte aber keine anderen Zettel entdecken. Auch gab es sonst keine Zeichen, welche mich über die Absichten und das Wesen des Mannes, der hier lebte, aufgeklärt hätten. Eines war jedoch sicher, er hatte wenig Sinn für bequeme Häuslichkeit. Und wenn ich an die Regengüsse der vergangenen Tage dachte, dann musste dieser Mensch über eine unerschütterliche Willenskraft verfügen.
Egal, ob Feind oder Freund - ich schwor mir, die Hütte erst dann zu verlassen, wenn ich das Geheimnis des Fremden ergründet hatte. Draußen ging die Sonne unter, der westliche Himmel schimmerte Rot und Gold. Man konnte die Türme von Baskerville Hall erkennen und die schwache Rauchsäule des Ortes Grimpen. Dazwischen lag das Haus der Stapletons.
Leider fühlte meine Seele nichts von diesem Frieden der Natur, sie bebte. Mit angespannten Nerven wartete ich entschlossen auf den Bewohner dieser düsteren Hütte. Endlich hörte ich Schritte. Es war der Klang harter Tritte auf felsigem Boden. Ich verdrückte mich mit meinem Revolver in der Hand in die dunkelste Ecke; entschlossen, meine Anwesenheit erst dann zu verraten, wenn ich den Fremden erkannt hätte. Jetzt fiel sein Schatten über den Eingang.
"Ein wunderbarer Abend, lieber Watson", ertönte eine wohl bekannte Stimme. "Meinen Sie nicht, dass es sich hier draußen besser sitzen ließe als drinnen!"