Am nächsten Morgen, als Sir Henry und ich beim Frühstück saßen, schien die Sonne durch die bunten Fenster. Schnell war der erste triste Eindruck des Vorabends vergessen. Wahrscheinlich war es die Reisemüdigkeit, die unsere Gemüter am Abend zuvor so schwer bedrückt hatte und nicht die Dunkelheit der Räume.
"Habe ich es mir eingebildet, oder haben Sie auch eine Frau weinen hören während der Nacht?", fragte ich Sir Henry.
"Ja, das mag sein. Gerade als ich einschlafen wollte, meinte ich, etwas in der Art zu hören. Aber danach war es eine ganze Weile still und ich glaubte, ich hätte schlecht geträumt. Doch nun … da muss ich sogleich nachfragen."
Er fragte Barrymore, ob er unseren Eindruck bestätigen könne. Ich sah, dass der Butler daraufhin noch blasser wurde. Er klärte uns auf, dass nur zwei Frauen im Haus wohnen würden. Das Hausmädchen, das am anderen Ende untergebracht ist und seine eigene Frau. Und bei der, versicherte Barrymore, hätte er garantiert gehört, wenn sie rumgeheult hätte.
Doch der Butler hatte gelogen. Nach dem Frühstück traf ich zufällig im Flur mit seiner Frau zusammen, gerade als die Sonne ihr stark ins Gesicht schien. Ihre Augen waren geschwollen und auffallend gerötet; sie hatte bestimmt geweint während der Nacht. Aber weshalb log Barrymore und warum hat seine Frau so bitterlich geweint? Um diesen bleichen, attraktiven, schwarzbärtigen Mann verdichtete sich eine geheimnisvolle Atmosphäre. Er war es, der als Erster Sir Charles gefunden hatte und womöglich war auch er es, der am Ankunftstag Sir Henrys in der Regent Street in der Kutsche gesessen hatte.
Ich nahm mir vor, den Postbeamten in Grimpen danach zu fragen, wer genau das Telegramm in Empfang genommen hatte, Barrymore selbst oder seine Gattin … Da Sir Henry nach dem Frühstück noch allerlei Schreibkram zu erledigen hatte, nutzte ich die Gelegenheit, einen Ausflug zu machen. Es war ein angenehmer Spaziergang, am Moor entlang. Ich wanderte bis zu einer kleinen, grauen Ansiedlung, in welcher zwei größere Gebäude, das Gasthaus und Dr. Mortimers Haus, weit über die anderen Häuschen hinausragten.
Der Postbeamte konnte sich genau an das Telegramm erinnern. Er hatte es Barrymores Frau gegeben, weil ihr Mann angeblich gerade auf dem Speicher gewesen wäre. Gesehen hatte er den Butler nicht. Also könnte es sich bei ihm unter Umständen um den Mann aus der Kutsche handeln. Aber welchen Plan verfolgte er, oder war er ein Werkzeug anderer? Als einzigen Beweggrund war anzuführen, dass die Barrymores auf einen bequemen, lebenslänglichen Ruheposten auf Baskerville Hall aus waren.
Nachdenklich ging ich die einsame, graue Straße zurück. Ach, wäre doch mein Freund hier - dann würde nicht die gesamte Last auf meinen Schultern liegen. Meine Überlegungen wurden durch das Geräusch hastiger Schritte hinter mir unterbrochen. Ein kleiner, schmaler, glatt rasierter Herr mit einem aufgesetzten Gesichtsausdruck rief mir nach. Ich blickte mich um und sah einen dünnhaarigen, hohlwangigen Mann zwischen dreißig und vierzig Jahren vor mir stehen, bekleidet mit einem grauen Anzug und einem Strohhut. Über seiner Schulter hing eine Botanisierbüchse und in der Hand schwenkte er ein Schmetterlingsnetz. Er stellte sich mir vor: "Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so direkt anspreche, Dr. Watson. Mein Name ist Stapleton und ich wohne in Merripit House."
Dann erkundigte er sich nach Sir Henry und sagte, dass die Bewohner der Gegend wohl befürchtet hätten, der junge Baronet wolle sein Erbe gar nicht annehmen. Lächelnd erzählte er weiter von den abergläubischen Bauern in der Gegend, die alle die Legende vom Höllenhund glaubten. An seinem Blick erkannte ich, dass auch er die Sache sehr ernst nahm. "Die Geschichte beeindruckte Sir Charles derart, dass ich nicht daran zweifle, dass sie tatsächlich die Ursache seines Todes war."
"Aber wieso denn?", fragte ich überrascht.
"Sir Charles hatte überreizte Nerven und bereits der Anblick eines Hundes hätte sein ohnehin schwaches Herz zum Stillstand gebracht. Irgend etwas muss er in jener letzten Nacht in der Eibenallee erkannt haben und ist dann aus Schreck darüber gestorben."
Inzwischen waren wir an einer Straße angelangt, von der ein schmaler Pfad nach dem Moor abzweigte. Rechts von uns lag ein steiler, mit Felsblöcken durchzogener Hügel. "Merripit House ist nicht weit von hier. Vielleicht könnten Sie eine Stunde erübrigen, um meine Schwester kennen zu lernen?"
Ich dachte, dass ich eigentlich bei Sir Henry sein müsste. Doch dann fiel mir wieder sein Aktenberg ein und zudem hatte mich Sherlock Holmes angehalten, die Nachbarschaft gründlich kennen zu lernen. So nahm ich Stapletons Einladung an. Wir gingen den Pfad entlang und er plauderte mit mir über die Eigenheiten des Moores. Er zeigte in die weite Ebene hinaus und sagte: "Das ist der Grimpensumpf. Ein falscher Schritt bedeutet den Tod für Mensch und Tier."
Während er in die Weite zeigte, sah ich, wie sich etwas Braunes wälzte und wand zwischen dem Schilf. Ein Moorpony. Es reckte seinen suchenden Kopf in die Höhe, um nach einem grauenhaften Schrei vollends im Moor zu versinken. Entsetzt verfolgte ich das Unglück. Meinen Begleiter schien überhaupt nicht ergriffen von dem grausigen Bild. Schweigend gingen wir weiter.
"Hallo, was ist denn das?", rief ich.
Ein unbeschreiblich trauriger Klagelaut tönte über das Moor. Ich konnte nicht sagen, wo er herkam. Der leise Ton schwang sich zu einem tiefen Grollen an und verklang in einem leisen Gemurmel. Stapleton sah mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an. "Die Bauern behaupten, es sei der Bluthund der Baskervilles, der nach seinem Opfer heult. Aber so laut habe ich ihn noch nie gehört."
Mit bangem Blick tastete ich die Umgebung ab. Es saßen jedoch nur einige Raben krächzend auf einem Steinhaufen hinter uns. Grässlich.