Blick aus Deutschland auf die Türkei
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan erlebt die schwersten Proteste seiner Amtszeit. Die türkische Bevölkerung in Deutschland beobachtet gespannt die Demonstrationen in der Türkei.
„Ich habe es am eigenen Leib erlebt. Ich konnte nicht atmen, mich hat das Tränengas auch erwischt“, erzählt Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Ende Mai 2013 haben die Proteste in Istanbul gegen ein Bauvorhaben im Gezi-Park begonnen. Kolat war in der Türkei und hat dort einige Tage die Demonstrationen der Menschen direkt beobachtet. Die Polizei reagierte mit harter Gewalt gegen die Demonstranten.
Die Folge der Gewalt: Die Proteste weiteten sich aus. Inzwischen protestieren die Menschen auch, weil sie den Regierungsstil von Ministerpräsident Erdoğan selbstherrlich finden. Sie werfen ihm vor, dem ganzen Land seine konservativ-religiösen Werte aufzwingen zu wollen – etwa indem er per Gesetz den Verkauf von Alkohol noch schärfer reglementiert als bisher.
Die türkische Bevölkerung in Deutschland verfolgt die Entwicklung in der Türkei nur aus der Ferne. So wie Kenan Kolat wäre die Berlinerin Berrin Alpeck gerade gern näher dran. Sie telefoniert viel in diesen Tagen, denn auch Bekannte und Verwandte von ihr sind bei den Protesten dabei: „Tagsüber gehen sie ganz normal zur Arbeit und am Abend gehen sie zur Demo. Die gehen für ihre Freiheit, für ihre demokratischen Rechte auf die Straße“, sagt sie.
Bekir Yilmaz, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde zu Berlin, macht sich auch Sorgen um die Gewalt in der Türkei. Er glaubt jedoch, dass oppositionelle Gruppen die Proteste benutzen, um die Regierung zu stürzen. Aber auch Yilmaz findet Erdoğans Reaktion nicht richtig. Er meint, dass auch ein Ministerpräsident nicht immer mit dem Kopf durch die Wand gehen darf. Auch wenn er 50 Prozent bei Wahlen hat, so Yilmaz, sollte Erdoğan ein Ohr für alle haben, damit sie in einer Gesellschaft friedlich miteinander leben können.
Glossar
Amtszeit, -en (f.) – die Zeit, in der jemand ein wichtiges Amt hat, z.B. als Präsident
am eigenen Leib er|leben – selbst dort sein und etwas persönlich erleben
Tränengas (nur Singular, n.) – das Gas, durch das man weinen, niesen und husten muss
etwas erwischt jemanden – etwas erreicht jemanden; etwas packt jemanden
Vorsitzende, -n (m./f.) – die Person, die eine Organisation oder eine Gruppe leitet
Bauvorhaben, - (n.) – der Plan, in Zukunft etwas zu bauen
Demonstrant/in, -en/-innen (m./f.) – jemand, der an einer Demonstration teilnimmt
Folge, -n (f.) – hier: das Ergebnis
sich aus|weiten – hier: mehr werden
Regierungsstil, -e (m.) – die Art, wie eine Regierung oder Person herrscht
selbstherrlich – mit zu viel Macht und zu viel Selbstvertrauen
jemandem etwas auf|zwingen – jemanden zwingen, etwas zu tun, das sie/er nicht will
per Gesetz– durch ein Gesetz; mit einem Gesetz
etwas schärfer reglementieren – hier: etwas strenger regeln
etwas verfolgen – regelmäßig beobachten, was passiert
Ferne (nur Singular, f.) – der Ort, der weit weg ist
näher dran – nicht so weit entfernt
Demo, -s (f.) – Abkürzung für: die Demonstration
oppositionell – hier: gegen die Politik der Regierung
die Regierung stürzen – der Regierung die Macht wegnehmen
mit dem Kopf durch die Wand gehen – die eigene Entscheidung ohne Rücksicht umsetzen
jemand hat ein Ohr für jemanden – jemand ist bereit jemandem zuzuhören