Der Nachkriegswinter 1946 war entsetzlich kalt, und nicht nur in Köln froren und hungerten die Menschen. Da nahm der Kölner Kardinal Joseph Frings in seiner Silvesterpredigt den Mundraub kurzerhand aus dem Sündenregister.
Mit den Gesetzen und den Ganoven ist das so eine Sache. Und mit der Moral sowieso. Wo verläuft die Grenze zwischen Notwehr und Aggression, zwischen freier Meinungsäußerung und Beleidigung? Wann wird aus einem Gesetzesverstoß ein Verbrechen und aus einem Nonkonformisten ein krimineller Halunke? War Robin Hood - mal vorausgesetzt, es hat ihn gegeben - ein Sozialromantiker oder ein Terrorist?
Abstauben, stibitzen, einstecken ...
Zum Glück für uns, die Anständigen - oder auch bloß Vorsichtigen, weniger Mutigen - hält unsere gute alte Muttersprache viele feine Differenzierungen bereit, um uns den Umgang mit den Schlawinern zu erleichtern. Oder Ausreden zu liefern, falls wir doch mal daneben langen sollten bei aller Gesetzestreue. Der mitgenommene Kugelschreiber aus dem Büro, der Lippenstift, den wir im Supermarkt zu bezahlen vergaßen, das hübsche Weinglas im Urlaubs-Ristorante weit weg von zu Hause - wer denkt da schon ans Strafgesetzbuch, das es einen Diebstahl nennt, sich eine "fremde bewegliche Sache" rechtswidrig anzueignen? Paragraph 242. Man hat eben schnell was mitgehen lassen, verschwinden lassen, abgestaubt. Man hat etwas stibitzt, das klingt so lustig nach Kinderspiel, oder organisiert, da denkt man an eine Denksportaufgabe und nie im Leben ans - igitt - Stehlen.
Es soll sogar Würdenträger der Heiligen römischen Kirche gegeben haben, die diesen geschmeidigen Umgang mit der Sprache virtuos beherrschten.
Die Geschichte ist freilich fast siebzig Jahre alt und die Zeiten waren weiß Gott anders und die Sitten rau. Im eiskalten Nachkriegswinter 1946 froren die Deutschen erbärmlich in ihren
Häuserruinen und Kellerlöchern, es fehlte an allen Ecken und Enden an Heizmaterial, obwohl die Besatzungsmächte mit Kohlelieferungen halfen.
Der Rhein war zugefroren, verzweifelte Menschen klauten Gemüse von den Äckern und Klütten, wie die Briketts im Rheinland heißen, von den alliierten Kohlewaggons.
... oder einfach "fringsen"
So schlimm war die Lage, dass der Kölner Kardinal Joseph Frings am Silvestertag 1946 auf die Kanzel der Kirche St. Engelbert stieg und den Klüttenklauern einen Aufsehen erregenden Freibrief ausstellte:
"Wir leben in Zeiten", rief Kardinal Frings hinunter in die Kirchenbänke, "da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann."
Das war deutlich. Die Rheinländer waren gerührt und erfanden sofort einen neuen Namen für den aus der klassischen Moraltheologie durchaus bekannten "Mundraub": "Fringsen". Den nächsten Satz vergaßen die meisten Predigthörer allerdings gleich wieder: "In vielen Fällen", gab der Kardinal zu bedenken, sei "weit" über solche Nothilfe "hinausgegangen" worden, und er mahnte, "unrechtes Gut unverzüglich zurückzugeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott".