Früher ging die Schule über den ganzen Tag, und eine "Stunde" dauerte volle 60 Minuten. Am 2. Oktober 1911 führte Preußen die 45-Minuten-Stunde ein und erlöste die Kinder vom bleischweren Nachmittag.
"Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss." Das wusste schon Lehrer Lämpel, der Pädagoge, der an Max und Moritz scheiterte. Dass der Mensch die Schulbank drückt, ist heute nicht anders als zu Lebzeiten von Wilhelm Busch. Doch wie viel er dort lernen muss und wie lange - darüber stritten die Pädagogen bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu viel des Guten ist ebenso abträglich wie zu wenig - diese Erkenntnis gab es schon, ehe Max und Moritz die Pfeife des Herrn Lämpel in die Luft jagten. Mit Schülern sei es wie mit Pferden, sagte das Lexikon für Erziehungs- und Unterrichtslehre 1842: Man dürfe sie nicht zu sehr schinden, wenn man lange und gut mit ihnen fahren will.
Verdauen des Mittagessens
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Schüler in preußischen Gymnasien fünf Schulstunden am Tag. Das klingt nach wenig. Doch damals dauerte die Stunde sechzig Minuten. Das heißt: Man saß von acht bis elf und von zwei bis vier im Klassenzimmer, und das von Montag bis Samstag.
Das war nicht nur für die Schüler eine lästige Sache. Sie mussten mittags drei Stunden lang ohne Aufsicht auf den Nachmittagsunterricht warten oder oft lange Wege nach Hause und zurück bewältigen. Die Lehrer klagten über bleierne Schwere, die danach über der Klasse lag. Die Schüler seien mehr mit dem Verdauen des Mittagessens beschäftigt als mit der Aufnahme neuen Stoffs.
Die Klagen erreichten auch den Bildungsminister August von Trott zu Solz. Er löste das Problem so: Der Schulunterricht sollte künftig am Vormittag zu erledigen sein. Damit die Anzahl der Fächer nicht darunter leide, möge man die Schulstunde auf 45 Minuten verkürzen. Das sei ganz einfach zu erreichen: indem nämlich die Lehrer alle Tätigkeiten, die nicht direkt mit dem Unterrichtsinhalt zu tun hatten, außerhalb der Schulzeit erledigten - vom Eintragen ins Klassenbuch bis zum Korrigieren schriftlicher Hausaufgaben. Die neue Verordnung trat am 2. Oktober 1911 in Kraft.
Militärische Pünktlichkeit
Doch auch das war wiederum nicht allen Recht. Das Lexikon für Pädagogik konterte: "Diese Kurzstunde ist kein Ideal", die Vormittagsschule "nichts weiter als ein Notbehelf". So empfand es auch mancher Lehrer, der sich - wie das Lexikon drei Jahre später bemerkte - zu militärischer Pünktlichkeit und übertriebener Hast gedrängt sah. Jede Behaglichkeit sei damit aus dem Schulalltag verschwunden, eine Schädigung der Nerven unausweichlich, und alles überhaupt ein Zeichen des ruhelos gewordenen Zeitgeistes.
Nichts hält besser als ein Provisorium, heißt es. Der Notbehelf hält nun immerhin schon 100 Jahre. Doch seit Anfang des 21. Jahrhunderts mehren sich die Stimmen, die für eine 60-Minuten-Stunde plädieren. Nicht nur unter den Lehrern: Auch Schüler äußerten, man könne sich besser auf etwas konzentrieren, wenn man nicht ständig vom Gong aus der Arbeit gerissen werde. Außerdem: Je weniger Fächer am Tag, desto leichter der Ranzen.
Ob das Aggressionspotenzial von Max und Moritz mit der Länge des Unterrichts zusammenhing, ist bis heute unerforscht - sonst hätte man dadurch vielleicht schon einen weiteren Anhaltspunkt auf der Liste des Für und Wider. Immerhin: An etlichen deutschen Schulen läuft der Unterricht wieder im echten Stundentakt; Tendenz: steigend.