Ulrich Bräker war Schweizer, doch er geriet in die Armee Friedrichs des Großen. Am 1. Oktober 1756 ist er bei der Schlacht zu Lobositz desertiert. Seine Lebensgeschichte beschrieb er in seinem Buch "Der arme Mann im Tockenburg".
Preußens Armee unter Friedrich II., den man auch den Großen nennt, war disziplinierter und schlagkräftiger als die meisten anderen Armeen Europas. Aber wie ging es den einfachen Infanteristen, denen die Disziplin ja eingeprügelt werden musste? Für die, die im Schlachtengetümmel des 18. Jahrhunderts niedergemäht wurden wie Strohhalme, interessierten sich die Historiker nicht, und Selbstzeugnisse gibt es wenige. Was einfache Leute schrieben, wenn sie es überhaupt taten, ging meistens verloren.
Der arme Mann im Tockenburg
Das Werk von Ulrich Bräker, einem Kleinstbauernsohn aus dem Schweizer Kanton St. Gallen, ist die große Ausnahme. Bräker hatte keine nennenswerte Schulbildung, aber eine unstillbare Schreib- und Leselust. In seiner Lebensgeschichte "Der arme Mann im Tockenburg" erzählt er, wie er in die Fremde zog, um sein Glück zu machen. Wie er einem preußischen Werbeoffizier in die Hände fiel, der ihn nach Berlin lockte, wo er gegen seinen Willen als Rekrut in die preußische Armee gepresst wurde.
Bräker sah, was Deserteuren bevorstand, die man wieder eingefangen hatte. Man ließ sie Spießruten laufen. 200 Mann schlugen auf den nackten Rücken der Unglücklichen ein, bis sie zusammenbrachen. Und am folgenden Tag mussten sie aufs Neue antreten, die Kleider wurden ihnen vom zerfleischten Rücken gerissen und man schlug, schrieb Bräker, "wieder frisch drauflos, bis Fetzen geronnenen Bluts ihnen über die Hose herabhingen".
Trotzdem wollte Bräker nichts wie weg. Aber er wartete klugerweise den Pulverdampf seiner ersten Schlacht ab. Das war die Schlacht zu Lobositz am 1. Oktober 1756. Unter dem "Zeter- und Mordiogeheul so vieler tausend elenden, zerquetschten, halbtoten Opfer" , so erinnert er sich in seiner Lebensgeschichte, lief er ins österreichische Lager über und bekam vom Feind erst mal Tabak und Branntwein geschenkt.
Sinnloser Zeitvertreib
Wieder zurück in der Schweiz, versuchte er sich eine Existenz aufzubauen. Aber weder als Bauer noch als Salpetersieder noch als Baumwollhändler oder Weber wollte ihm irgendetwas glücken. Seine Leidenschaft fürs Schreiben tröstete ihn, seine Ehefrau Salome allerdings weniger, die schimpfte in einem fort. Sie war mit Blick auf die sieben Kinder, die vielen Schulden und den eigenen gänzlichen Mangel an Freizeit von dem Standpunkt nicht abzubringen, dass das Schreiben ein sinnloser Zeitverderb sei.
Es war der Dorfpfarrer, der Bräker entdeckte und förderte und seine Schriften drucken ließ. Das änderte an seiner Armut nichts, schenkte der Welt aber ein Werk, das einmalige Einblicke in das Leben armer Leute im 18. Jahrhundert bietet und noch heute spannend zu lesen ist. Bräker verfügt über die Sensibilität und den Scharfsinn des geborenen Außenseiters und über einen lebendigen, präzisen Schreibstil. Schade, dass er so einsam dasteht in der Literaturgeschichte. Schade um all die Talente, die der Welt verloren gingen, nur weil sie in der Unterschicht zur Welt kamen.