Der Ethnologe Franz Boas, geboren am 9. Juli 1858, ist der Begründer der Kulturanthropologie. Ihm ist es vor allem zu verdanken, dass sich die Wissenschaften vom Sozialdarwinismus ab- und den Menschenrechten zuwandten.
Was haben die Eskimos und die Ideenwelt der Nazis miteinander zu tun? Eine ganze Menge, meinte der 1858 in Minden geborene und 1942 in New York gestorbene Ethnologe Franz Boas. Er hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, den Rassenwahn nicht mit flammenden moralischen Appellen zu bekämpfen, sondern mit nüchternen Forschungsergebnissen zu widerlegen. Deshalb lebte er ein ganzes Jahr lang bei den Inuit - wie gelehrte Leute die kanadischen und grönländischen Eskimos nennen - auf der Baffininsel und unternahm dreizehn ausgedehnte Reisen zu den Kwakiutl-Indianern an der nördlichen Pazifikküste.
Eine ganz neue Wissenschaft
Doch der Reihe nach: Geboren wurde Franz Boas am 9. Juli 1858 im westfälischen Minden in einer Familie jüdischer Freidenker: Sein Onkel Abraham Jacobi hatte zu den Revolutionären von 1848 gehört, die preußische Regierung schickte ihn ins Gefängnis. Die Mutter, Sophie Meyer Boas, baute nach dem Vorbild Fröbels den örtlichen Kindergarten auf. Franz Boas studierte Physik, Erd- und Völkerkunde - und Chemie bei Professor Robert Wilhelm Bunsen, Generationen von Schülern durch den Bunsen-Brenner bekannt.
1883 dann die große Expedition zu den Inuit; hier entdeckte Boas sein Interesse für das Verhalten der Menschen und für die Kultur als Ganzes. "Ich bin jetzt ein echter Eskimo", schrieb er begeistert an seine Verlobte. "Ich lebe, wie sie leben, und jage mit ihnen." Es traf sich gut, dass dort auf der Baffininsel gerade auch schottische und amerikanische Walfänger mit ihren Schiffsmannschaften - Seeleute aus aller Herren Länder - überwinterten. So konnte Boas gründlich vergleichen, beobachten, analysieren - und allmählich die Fundamente einer ganz neuen Wissenschaft legen, der Kulturanthropologie.
Ihre Säulen, kurz zusammengefasst: Rassenunterschiede lassen sich nicht aus genetischen Faktoren erklären, sondern aus den Verschiedenheiten der sozialen Lage und des gesellschaftlichen Umfelds. Reine Rassen existieren nicht, Mischvölker wie etwa die Mestizen sind sogar besonders robust und energiegeladen. Geschichtliche Ereignisse waren für die kulturelle Entwicklung immer wichtiger als erbliche Begabung. Wissenschaftlich wäre es völlig unverantwortlich, von Überlegenheit oder Minderwertigkeit einer Rasse zu sprechen.
Abkehr vom Sozialdarwinismus
Ein ganzes Forscherleben lang sammelte Boas Beweise für seine aufklärerischen Thesen. Bei europäischen Einwandererfamilien in den USA stellte er zum Beispiel fest, dass Immigranten mit langer Kopfform nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten Kinder mit kürzeren Köpfen zeugten. Nachkommen afrikanischer Sklaven erwiesen sich als ebenso begabt und arbeitsam wie die ihnen angeblich überlegenen Weißen, sobald sie sich in städtischer Umgebung niederließen. Und so weiter.
Mit seinen Studien und über seine Schüler übte Franz Boas enormen Einfluss aus: Es ist vor allem auch ihm zuzuschreiben, dass sich die Wissenschaften vom Sozialdarwinismus ab- und den Menschenrechten zuwandten.
1887 war er in die USA emigriert, verdarb es sich aber dann dort mit vielen Weggefährten, als er 1917 den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten in Zweifel zog. Im Dezember 1942 erschien er, mit einer alten Pelzkappe aus der Eskimo-Zeit einigermaßen skurril ausstaffiert, bei einem Festessen für einen französischen Kollegen an der Columbia University. Mitten in der Unterhaltung verstummte er plötzlich, stieß sich vom Tisch weg und starb.