Die Idee hatte wahrscheinlich die achtjährige Margaretha. Zuhause hat sie neun ältere Geschwister. Aber bei ihren gleichaltrigen Freundinnen ist sie die Bestimmerin. Margaretha weiß, wie man sich tolle Spiele ausdenken kann, ganz ohne Spielzeug. Denn davon gibt es in den ärmlichen Verhältnissen der Mädchen nicht viel.
Ein deutsches Lourdes!
Eine "weiße Frau" mit einem Kind im Arm wollen die Mädchen im Hertelwald, nahe ihres Heimatdorfes Marpingen an diesem Juliabend des Jahres 1876 gesehen haben. Für so eine Unfugsgeschichte muss die kleine Katharina ohne Abendessen ins Bett! Susannas Mutter dagegen ist schnell genauso Feuer und Flamme wie der Dornbusch, über den sie am Sonntag noch die Predigt gehört hatte. Und auch die Eltern der anderen Mädchen werden allmählich ganz Ohr.
Die "weiße Frau" habe verkündet "ich bin die unbefleckt Empfangene". Sie hat doch wohl eher gesagt, ich bin die "unbefleckte Empfängnis"? hakt Katharinas Mutter nach. Nein hat sie nicht! Margaretha und ihre Freundinnen dulden keinen Widerspruch. Nur was das Erscheinungsbild der Mutter Gottes angeht, lassen sie sich mit den Erwachsenen auf einige Kompromisse ein. Wahrscheinlich trug sie doch einen blauen Mantel. Die Eltern überläuft ein heiliger Schauer. Sollte etwa hier im saarländischen, gottverlassenen Marpingen tatsächlich die Jungfrau Maria erschienen sein? Ein zweites Lourdes auf deutschem Boden!
Bald müssen die Kinder am Ort der Erscheinung den Erwachsenen ihre seherischen Fähigkeiten beweisen. Margaretha wird kurz vor ihrem Eintritt ins Kloster mit 20 Jahren schreiben, dass die ganze Sache sich so schnell entwickelte, dass die Mädchen sich nicht mehr trauten, ihre Geschichte zurückzunehmen.
Drei Mädchen gegen Bismarck
Marpingen wird zum Pilgerort! Tausende strömen in das kleine Dorf, um mit den drei Kindern am Hertelwald die Erscheinung Mariens zu erleben. Natürlich sind bis auf ein paar andere Verzückte nur die drei Mädchen in der Lage die Heilige zu schauen. Schließlich sind sie reine Kinder - die jetzt den Erwachsenen sagen, was sie tun und lassen müssen. Den Ort der ersten Erscheinung darf niemand ohne sie betreten, auch der Pfarrer nicht. Und die Mädchen dolmetschen was ihnen Maria "erzählt". Sie sagen allen, welche Gebete sie zu verrichten haben, auch der eigens angereisten Prinzessin von Thurn und Taxis. Margaretha, Susanna und Katharina sind die Bestimmerinnen.
Aber sie haben nicht mit Spielverderber Bismarck gerechnet. Der führt schon seit ein paar Jahren einen erbitterten Kulturkampf gegen die katholische Kirche, um eine klare Trennung von Kirche und Staat zu erreichen. Auf Besuche der Mutter Gottes reagiert Bismarck daher äußerst ungastlich. Die Pilgerschar am Hertelwald wird vom Militär brutal auseinandergetrieben, das Waldstück gesperrt und die drei Mädchen einen Monat in eine protestantische Besserungsanstalt gesteckt. In langen Verhören gestehen die Achtjährigen ihre Lüge.
Ihren Eltern, dem Pfarrer und einigen Erwachsenen, die die Jungfrau auch gesehen haben wollen, wird der Prozess wegen Betrugs gemacht. Schließlich hat das Dorf finanziell von den Pilgern profitiert. Doch am 5. April 1879 werden alle Angeklagten frei gesprochen. Es mangelt schlichtweg an Beweisen für einen vorsätzlichen Betrug. Und Bismarck? Der ist sich schon länger nicht mehr so sicher ob sein Kulturkampf von Erfolg gekrönt sein wird.