Mary Leakey war eine der bedeutendsten Paläoanthropologinnen des 20. Jahrhunderts. Sie fand unter anderem das erste Fossil des so genannten Nussknackermenschen. Autorin: Prisca Straub
Manchmal beginnt die Zukunft in einer schäbigen Absteige: Doch als Mary Douglas Nicol mit den Augen den staubigen Horizont absucht, ist davon noch nichts zu erkennen. Die 22-Jährige ist aus Großbritannien bis auf diese Terrasse eines heruntergekommenen Hotels am Fuß des Kilimandscharo gereist. Sie hat eine Verabredung. Mit dem renommierten Fossiliengräber Louis Leakey. Es ist der 18. April 1935.
Die Antwort auf alle Fragen
Die Verabredung ist schon etwas älter. Genauso wie der Mann, auf den Mary wartet. Zum ersten Mal hat sie ihn vor ein paar Monaten in London getroffen, auf einem seiner Vorträge. Leakey hatte von seiner Grabung in der Olduvai-Schlucht berichtet - Mary war hingerissen gewesen. Nicht nur von der Suche nach den ältesten Knochen der Menschheit, besonders von dem mitreißenden Redner. Und die Faszination war erwidert worden. Und jetzt steht Mary auf der Hotelterrasse in Tansania und wartet. Nur dass von Louis Leakey noch immer nichts zu sehen ist - nichts als endlose Massai-Steppe.
Was die Leidenschaft für Millionen Jahre alte menschliche Überreste angeht, hätte Mary es kaum besser treffen können. Sie ist auf dem Weg, Archäologin zu werden und hat sich noch nie beklagt, wenn es darum ging, tagelang bäuchlings im Staub zu liegen. Auf ihrer Reise nach Ostafrika hat sie bereits Bekanntschaft geschlossen mit giftigen Puffottern und Hyänen. Und sie hat einen scharfen Blick: Während Mary immer wieder die in der Hitze flimmernde Landschaft nach Louis Wagen absucht, beschleicht sie zum ersten Mal die Vermutung, dass sie an diesem Ort den Rest ihres Lebens verbringen könnte.
"Wir werden Unschätzbares finden", hatte Louis ihr versprochen: "In Olduvai liegt die Antwort auf alle unsere Fragen" - die Wurzeln der Gattung Homo, die Anfänge der Menschheit. Und in der Tat, er wird recht behalten: Jahrzehnte wird Mary damit verbringen, in der tief eingeschnittenen Schlucht das Geröll zu durchsieben. Mehr als 40.000 von Menschenhand geformte, kantige Steinwerkzeuge wird sie einsammeln. Und sie wird einen der ältesten Hominiden-Schädel entdecken, der je gefunden wurde. Sie wird auf dem Titelblatt der Fachzeitschrift Nature und in der New York Times erscheinen: eine streng blickende Frau im Tweed-Kostüm, die beinah zärtlich einen rund zwei Millionen Jahre alten Schädel ins Blitzlichtgewitter hält. Inzwischen als Louis Ehefrau: Mary Leakey.
So lebendig wie nie
"In Afrika kann man ebenso unglücklich werden wie in England", hatte Mary ihrer missbilligenden Mutter versichert, als sie zu ihrer fernen Verabredung aufgebrochen war. Und auch das sollte sich als wahr erweisen. Zwar wird sie mit Louis drei Kinder haben, den Großteil ihres Lebens aber wird sie allein verbringen. Und während Mary in Olduvai gewissenhaft selbst das kleinste fossile Puzzlestück auswertet, wird ihr Mann sich im internationalen Rampenlicht sonnen - im Schlepptau einen nicht enden wollenden Reigen junger Assistentinnen. Der Stammbaum der Gattung Mensch wird neu geschrieben, bei Mary in Olduvai sammeln sich immer mehr leere Brandyflaschen.