Es scheint hier jedermann zu wissen, was sich schickt, und das erzeugt eine gewisse Kälte, und es scheint ferner, daß hier jedermann sich durch sich selbst behauptet, und dies ruft die Ungestörtheit hervor, die der Neuling hier bewundert. Die Armut scheint hinausgeschoben in die Viertel, die an die offenen Felder streifen oder nach innen ins Düster und Dunkel der Hinterhäuser gedrängt, die von den herrschaftlichen Vorderhäusern verdeckt werden wie von mächtigen Körpern. Es scheint, als habe hier die Menschheit aufgehört zu seufzen und angefangen, ihres Lebens und Daseins endgültig froh zu sein. Doch der Schein trügt, und die Pracht und Eleganz sind nur ein Traum. Aber auch das Elend ist vielleicht nur eine Einbildung. Was die Eleganz des Westens von Berlin betrifft, so scheint sie ausgezeichnet durch Lebhaftigkeit und zugleich ein wenig verdorben durch die Unmöglichkeit, sie ruhig zu entfalten. Es steckt hier übrigens alles in einer fortlaufenden Entfaltung und Veränderung. Die Männer sind ebenso bescheiden wie unritterlich, und man kann sehr glücklich darüber sein, denn die Ritterlichkeit ist stets zu drei Vierteln unpassend. Die Galanterie ist etwas außerordentlich Dummes und Vorlautes. Es gibt hier demnach wenig gefühlvolle Auftritte, und wo sich irgendein feinsinniges Abenteuer entspinnt, merkt man es gar nicht, das ist doch immerhin sehr fein. Die Herrenwelt ist heute eine Geschäftswelt, und wer Geld verdienen muß, hat keine oder wenig Zeit, sich auffallend schön zu benehmen. Daher eine gewisse rauhe abfertigende Tonart. Im allgemeinen gibt es viel Amüsantes im Westen; die Lächerlichkeiten leben so reizend und hübsch, wie man es sich nur träumen kann, weiter. Da ist die Emporkömmlingin, eine Gewaltsdame, naiv wie ein kleines Kind. Ich persönlich schätze sie sehr, weil sie so üppig und zugleich so drollig ist. Da ist die »Kleine vom Kurfürstendamm«. Sie gleicht einer Gemse, und es ist viel Braves und Liebes an ihr. Da ist der Lebegreis. Es spazieren nur noch sehr wenige Exemplare dieses Kalibers in der Welt, die zu leben weiß, herum. Die Sorte ist im Aussterben begriffen, und ich finde, daß das sehr schade ist. Ich sah neulich einen solchen Herrn, er kam mir wie eine Erscheinung aus verschwundenen Zeiten vor. Da haben wir wieder etwas anderes, den reichgewordenen ländlichen Ansiedler. Er hat sich noch nicht abgewöhnt, Augen zu machen, wie wenn er über sich selbst und über das Glück, in dem er sitzt, staune. Er benimmt sich viel zu sittsam, so, als fürchte er, zu offenbaren, woher er stamme. Da haben wir wieder die ganz, ganz gestrenge Gnädige aus der Bismarckzeit. Ich bin ein Bewunderer von strengen Gesichtern und von ins Wesen des Menschen übergegangenen guten Manieren. Mich rührt ja überhaupt das Alte, sowohl an Bauten wie an Menschengestalten; deswegen erquickt mich aber das Frische, Neue und Junge nicht weniger; und jung ist's hier, und gesund scheint mir der Westen zu sein. Sollte eine gewisse Portion Gesundheit eine gewisse Portion Schönheit verdrängen? Mitnichten. Das Lebhafte ist zuletzt das Schönste. Nun ja, vielleicht wedle und scharwenzle und schmeichle ich jetzt ein bißchen; wie z. B. durch folgenden Satz: Die hiesigen Frauen sind schön und anmutig! Die Gärten sind sauber, die Architektur ist vielleicht ein wenig drastisch, was kann das mich kümmern. Es ist heute ja jedermann überzeugt, daß wir Stümper sind im Großen, Stilvollen und Monumentalen und wahrscheinlich deshalb, weil in uns zu sehr der Wunsch lebt, Stil, Größe und Monumentalität zu besitzen oder zu erzeugen. Wünsche sind schlimme Dinge. Unser Zeitalter ist entschieden das Zeitalter der Empfindlichkeit und Rechtlichkeit, und das ist doch sehr hübsch von uns. Wir haben Fürsorgeanstalten, Krankenhäuser, Säuglingsheime, und ich bilde mir gerne ein, das sei doch auch etwas. Wozu alles wollen? Man denke an die Schauder der alten Fritzen-Kriege und an sein – Sanssouci. Wir haben wenig Gegensätze; das beweist, daß wir uns danach sehnen, ein gutes Gewissen zu haben. Aber wie schwenke ich da nur ab. Darf man das? Es gibt einen sogenannten alten Westen, einen neueren Westen (rund um die Gedächtniskirche) und einen ganz neuen Westen. Der mittlere ist vielleicht der netteste. Ganz bestimmt trifft man in der Tauenzienstraße die höchste und meiste Eleganz an; der Kurfürstendamm ist reizend mit seinen Bäumen und seinen Kaleschen. Ich sehe mich mit großem Bedauern schon an den Rahmen meines Aufsatzes anstoßen, in der fatalen Überzeugung, daß ich vieles, was ich unbedingt habe sagen wollen, gar nicht gesagt habe.