Ein Mönch, dessen Gebet Erhörung bei Gott fand, hatte sich am Rande eines Baches niedergelassen und sich ganz von den Dingen dieser Welt zurückgezogen. Eines Tages flog ein Weihe vorbei, der eine Maus gefangen hatte und im Schnabel hielt. Nach Gottes Willen fiel diese aus dem Schnabel des Weihes gerade vor den Mönch. Dieser sah sie und empfand Mitleid mit ihr, warf seinen Mantel über sie, nahm sie in sein Haus [282]und trug einem seiner Schüler auf, sie wie seinen Sohn zu pflegen. Dann kam ihm in den Sinn, daß dies Tier in einer Menschenwohnung allerlei Unbequemlichkeit hervorrufen werde. Er bat daher Gott, daß er sie in ein junges Mädchen verwandele. Sein Gebet wurde erhört und sie wurde ein schönes Mädchen. Als der Mönch sah, daß sie die leibhaftige Grazie war, übergab er sie einem seiner Schüler und trug ihm auf, sie wie seinen leiblichen Sohn zu erziehen. Der Schüler folgte dieser Anweisung seines Meisters und erzog sie mit Eifer.
Nach kurzer Zeit war das Mädchen herangewachsen und der Mönch sagte zu ihr: „Liebes Herz, du bist nun herangewachsen und ich muß dich verheiraten. Ich überlasse die Sache dir. Was sagst du dazu? Du kannst dir deinen Gemahl aus den Menschen und Geistern und den Wesen der Ober- und Unterwelt aussuchen.“ Das Mädchen antwortete: „Ich wünsche einen Gemahl, der sich durch Kraft und Stärke besonders auszeichnet.“ Der Mönch erwiderte: „Ein Wesen, das alle diese Eigenschaften besitzt, wird schwer gefunden, aber vielleicht ist es die Sonne?“ Das Mädchen sagte: „Ja, das wäre ein passender Gemahl für mich.“
Als die Sonne am Morgen aufging, stellte der Asket ihr die Sache dar und sagte: „Das Mädchen ist sehr schön und einem Engel zu vergleichen. Ich will sie jetzt verheiraten, aber sie verlangt jetzt von mir einen starken, angesehenen Gemahl, deswegen möchte ich sie dir als Dienerin übergeben und die Ehe zwischen euch beiden abschließen.“ Als die Sonne dies hörte, wurde sie vor Scham bald bleich, bald rot. Schließlich gab sie folgende Antwort: „Mönch, ich will dir jemand nennen, der stärker als ich ist. Das ist die Wolke, denn sie kann mit ihrer Schleppe mein leuchtendes Gesicht verhüllen und meinen Anblick dem Menschen fern halten.“
Der Mönch wandte sich also an die Wolke und trug sein Anliegen vor. Die Wolke versank vor Scham und sagte: [283]„Wenn du mich wegen meiner Kraft und Stärke wählst, so ist der Wind in dieser Beziehung mir überlegen, denn er treibt mich dorthin, wohin er es will, und mein Wille ist ganz in seiner Hand.“ Der Mönch gab dies zu und wandte sich an den Wind. Er schilderte ihm die Schönheit seiner Tochter und erzählte die Geschichte von der Wahl des Schwiegersohnes genau wie vorher. Der Wind kam in Verlegenheit über diese Worte und sagte: „Wenn ich auch noch so mächtig und kräftig bin, so ist doch der Berg noch mächtiger, denn er steht fest und majestätisch. Meine Kraft macht gerade soviel Eindruck auf ihn wie der Ton einer Posaune auf das Ohr eines Tauben oder der Tritt einer Ameise auf einen harten Fels.“