Ein Reiher hatte sich am Rande eines Baches niedergelassen und hatte all sein Bemühen auf den Fang von Fischen gerichtet. Jeden Tag fing er, soviel er brauchte, und brachte so sein Leben in Behaglichkeit zu. Als die Zeit des Alters kam, ließ seine Kraft nach. Infolgedessen wurde er schwach, und seine Körperkräfte wurden von Tag zu Tag geringer. Die Jagd auf Fische unterblieb und, gefangen von Kummer und Gram, tadelte er sich und sagte: „Wehe, daß des Lebens Jahre wie eine Karawane entschwinden, von der man nicht einmal den Staub mehr sieht! Weh, daß ich mein Leben wie ein Spielzeug betrachtet und seinen Wert nicht erkannt habe. Ich habe mir für das Alter keine dauernden Vorräte gesammelt. Jetzt ist meine Kraft gebrochen und mir die Erwerbung von Unterhalt nicht mehr möglich. So ist es das Beste, daß ich das Gebäude meines Tuns auf List und Trug gründe, das Netz des Betrugs und der Heuchelei auswerfe und im Hause der Schlauheit und Täuschung wohne. Vielleicht kann ich auf diese Art meinen Lebensunterhalt haben.“
Er ließ sich also mit traurigem Jammern und heftigem Weinen, wie die Bekümmerten und Sorgenvollen tun, am Rande des Baches nieder. Da sah ihn gerade ein Krebs von weitem, kam zu ihm, redete ihn freundlich an und sagte: „Freund, ich sehe dich sehr bekümmert. Was ist die Veranlassung? Ich sehe dein Gesicht mit dem Staube der Traurigkeit und des Ärgers bedeckt, was ist der Grund?“ Der alte Reiher antwortete: „Wie sollte ich nicht traurig sein? Warum sollte ich nicht mit der Hand der Sorge meinen Kragen zerreißen? Du weißt ja, daß mein ganzer Lebensunterhalt auf diesen Bach beschränkt war. Jeden Tag fing ich mir einige Fische, die mir als Nahrung genügten. Die Fische hatten auch nicht übermäßig Schaden davon, und ich konnte ruhig und zufrieden leben. Heute gingen zwei Fischer am Ufer dieses Baches und erzählten [257]sich, daß in diesem Wasser unendlich viel Fische seien, die sie fangen wollten. Der andere sagte: ‚In dem und dem Teiche sind noch viel mehr, wollen erst die erledigen und uns dann zu diesem wenden.‘ Bei diesen Verhältnissen muß ich auf die Süßigkeit des Lebens verzichten und mich mit dem Gifte des Todes begnügen.“
Als der Krebs dies hörte, ging er schleunigst zu den Fischen und erzählte es ihnen. Die Fische wurden von dieser schrecklichen Nachricht ganz aufgeregt und zitterten wie ein Weidenblatt. Schließlich einigten sie sich, gingen mit dem Krebs zum Reiher und sagten: „Dieser unser Freund hat uns von dir eine traurige Nachricht gebracht, durch die unser Verstand aus Rand und Band gekommen ist. Je mehr wir die Sache betrachten, um so mehr schwanken wir hin und her wie die Kompaßnadel. Wir sind nun zu dir gekommen, um uns mit dir zu beraten, denn es heißt ja: ‚Derjenige, der um Rat gefragt wird, ist zuverlässig.‘ Der Verständige darf, selbst wenn er ein Feind ist, wenn man sich an seinen Rat und gesundes Urteil wendet, nicht mit seinem Rate zurückhalten, besonders in dieser Sache, mit der auch sein eigener Nutzen verbunden ist. Denn du selbst hast ja zugegeben, daß der Bestand deines Lebens an die Dauer unseres Daseins gebunden ist. Was hältst du also für richtig in dieser unserer Angelegenheit, und was kannst du uns für unsere Rettung raten?“ Der Reiher erwiderte: „Ja, ich habe diese Nachricht aus dem Munde der Fischer selbst gehört. Dagegen nützt nun kein Widerstand. Ich habe viel über die Lösung des Knotens nachgedacht. Das Beste, was mir eingefallen ist, ist folgendes: In dieser Gegend ist ein großer Teich, blank wie ein Spiegel, und an Reinheit wetteifert er mit dem Sonnenlicht. Infolge seiner Klarheit kann jedes Sandkorn auf seinem Grunde gezählt werden und jedes in ihm gesehen werden. Trotzdem hat die Einbildungskraft noch nicht bis zu seinem Grunde tauchen und der Verstand noch nicht von einem Ufer zum andern [258]schwimmen können; noch ist die Angelrute eines Fischers je zu jenem Teiche gekommen. Die Fische dort kennen keine andere Fessel als die Kette des Wassers. Wenn ihr dorthin umziehen könntet, würdet ihr den Rest des Lebens in Ruhe, Sicherheit und Freude verleben.“ Sie antworteten: „Dieser Plan ist wohl das Beste, aber ohne deine Hilfe ist der Umzug nicht auszuführen.“ Der Reiher entgegnete: „Soweit ich vermag, soll es euch daran nicht fehlen. Aber die Zeit drängt. Ich fürchte, daß die Fischer unvermutet kommen, und daß dann die Gelegenheit versperrt ist und mein Plan nicht mehr nutzt.“ Die Fische baten ihn demütig unter vielen Tränen. Schließlich, nach vielem Bitten kam es zu einem Vertrage, daß der Reiher jeden Tag kommen sollte und von den Fischen, soviel er tragen könne, in jenen Teich hinüberbringe.
Der Reiher kam also jeden Tag und nahm von den Fischen, soviel er wollte. In dieser Gegend war ein Wald, dorthin trug er sie und bewahrte sie sich als Vorrat auf. Wenn er dann zurückkehrte, sah er, daß die andern am Rande des Teiches standen, in Aufregung warteten und jeder sich beeilte, vor dem andern hinübergetragen zu werden. Die Weisheit betrachtete ihre Dummheit und ihren Leichtsinn und nahm sich ein Beispiel daran, und die Zeit weinte aus hundert Augen über ihr Unglück. Jeder, der dem Feinde glaubt und den Listen und Betrügereien eines gemeinen und schlechten Menschen vertraut, wird so bestraft.